
Noch vor zehn Jahren nannte er in einem Interview als seine Repertoireschwerpunkte Beethoven, Chopin und Liszt. Doch seitdem ist Jean Muller auf dem CD-Markt nur noch mit Mozart in Erscheinung getreten, mit sehr feinen Aufnahmen des gesamten Sonatenzyklus. Der groß gewachsene Mann mit dem markanten Schädel und den schnellen Fingern erweist sich als eher bedächtiger, aber netter Gesprächspartner, als wir uns in der Kneipe „Theaterstuff“ in Luxemburg treffen.
Herr Muller, gerade ist die fünfte und letzte Folge Ihrer Mozart-Edition erschienen. Haben Sie die 18 Sonaten wirklich schon vor Jahren in nur zwei Sessions aufgenommen?
Ja, das war 2016 und 2017, an jeweils fünf Tagen. Es hat eben etwas länger gedauert, das alles zu verarbeiten. Ich dachte mir, wenn das Projekt über mehrere Jahre läuft, dann wird sich mein Stilempfinden wandeln. Das hat natürlich seine interessanten Seiten, aber ich wollte wirklich eine stilistische Einheit erreichen.
Aber ist es nicht komisch, wenn dann über Jahre hinweg CDs herauskommen, und Sie sind stilistisch schon wieder woanders?
Darüber habe ich damals schon nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen: Wenn ich die Aufnahmen später höre, muss ich den Eindruck haben, dass ich mein Bestes gegeben habe. Und das ist heute tatsächlich so – auch wenn ich einige Sachen inzwischen anders angehen würde.
Sie würden nicht am liebsten einiges noch mal aufnehmen?
Nein, man muss etwas auch mal stehen lassen. Ich bin froh, dieses Projekt gemacht zu haben. Das ist ein Teil meiner Persönlichkeit und meines Werdegangs.
Warum haben Sie den kompletten Mozart-Zyklus aufgenommen?
Das ist immer die Frage: Warum tut man etwas? Weil man es einfach tun muss. Weil man denkt, es geht nicht anders. Und Mozart ist ja nicht der schlechteste Komponist. Aber er ist schwierig, man muss sich intensiv mit ihm beschäftigen, um noch etwas Neues darin zu entdecken. Das war mir ein Bedürfnis.
Sie haben früher mal gesagt, Chopin sei Ihr absoluter Lieblingskomponist, Sie haben auch viel Liszt gespielt. Wie tauchte dann Mozart in Ihrem Leben auf?
Mozart habe ich immer sehr gemocht, aber ich habe ihn nicht angefasst zum Spielen. Vielleicht hatte ich einfach zu viel Respekt. Seine Musik hat etwas sehr Zerbrechliches. Und es hat auch einfach Zeit gebraucht, bis ich mich dafür interessiert habe, was man da pianistisch machen kann. Mozart ist ja überhaupt nicht virtuos. Wenn man jung ist, schätzt man das Virtuose – einfach weil es Spaß macht. Aber irgendwann hatte ich den Eindruck, dass ich auch etwas anderes machen und mehr in die Feinheiten gehen wollte. Im Endeffekt ist es dann genauso schwer, eine Note wirklich genau richtig zu ziselieren, wie eine Millionen Noten in einem Lauf nacheinander zu spielen.
Aber macht es auch genauso viel Spaß?
Man muss sich physisch zurücknehmen, aber es ist absolut keine Unterforderung. Wenn man so wenige Noten hat, muss man sich extrem konzentrieren auf das Klangliche. Das verlangt dann auch wieder höchste Konzentration und sehr genaues Zuhören. Ich denke, die Qualität meines Zuhörens hat sich durch Mozart erheblich gebessert.
Wie lange haben Sie sich auf die Aufnahmen vorbereitet?
Ich habe die Sonaten ein paar Jahre gespielt, dann aufgenommen und dann immer noch ziemlich lange gespielt. Der letzte Konzertzyklus ging 2019 zu Ende. Dazu kamen ja noch die Booklettexte, für die ich noch einmal über die Stücke nachdenken musste. Also insgesamt hat mich das Projekt schon ein Jahrzehnt beschäftigt.
Sind diese 18 Sonaten denn vielfältig genug, dass man sie alle spielen muss?
Der Vorteil, wenn man versucht, einen Garten sozusagen komplett auszuleuchten, ist, dass man einen anderen Blickwinkel bekommt. Ich gebe zu, dass ich selbst vorher Zweifel hatte. Der Zyklus ist ja längst nicht so heterogen wie zum Beispiel die Sonaten von Beethoven. Aber dann wünschte sich ein Konzertveranstalter den Zyklus, und bei der Beschäftigung für den Konzertsaal habe ich gemerkt: Das ist interessant! Man sollte einen Komponisten vom Rang eines Mozart nie gering schätzen. Wenn man sich in die Werke vertieft, entdeckt man so viele Details, und man sieht, dass so viel Leben in dieser Musik steckt – das hat dann doch einen Sog auf mich erzeugt.
Und trotzdem sagen Sie, es ist schwierig, das wirklich gut darzustellen und lebendig zu machen?
Die Schwierigkeit besteht darin, dass die Mittel limitiert sind. Man hat ja nur eine gewisse dynamische Bandbreite, man ist allein schon von der Breite der Tastatur her eingegrenzt und muss dann in dieser Begrenzung sozusagen das Lebendige herausbringen.
Sie haben mit sehr wenig Pedal gespielt, oder?
Das Pedal ist ein sehr feinsinniges Instrument, das man auch so behandeln muss. Man sollte es auf keinen Fall benutzen, um etwas zu verstecken oder zu vernebeln. Das Pedal ist dazu da, die Klangfarben zu verfeinern, es gibt einem mehr Möglichkeiten. Ich habe gar nicht wenig Pedal genommen, aber ich habe versucht, damit sehr präzise zu arbeiten.
Unser Kritiker Gerald Felber schreibt, Ihr Klang sei nahe am Hammerklavier.
Es ist immer interessant zu lesen, wie etwas rüberkommt. Ich habe auch mal gelesen, meine Goldberg-Variationen würden klingen wie auf dem Cembalo gespielt. Das war gar nicht meine Absicht, aber wahrscheinlich hat einfach meine Vorstellung des Werkes mich in diese Richtung gebracht. Wenn man sich in ein Werk und seine Klangsprache vertieft, dann kommt man automatisch zu einer Lösung, die in diese Richtung geht – weil die Musik ja so konzipiert ist.
Aber Ihr Ideal ist schon, eher klar und analytisch und durchhörbar zu spielen, oder?
Ich mag klare musikalische Ideen. Ich bin kein Freund davon, Sachen im Unklaren zu lassen.
Warum haben Sie die Sonaten nicht chronologisch aufgenommen?
Ich bin ein Bühnenmensch und denke immer vom Konzert her. So habe ich auch die CDs zusammengestellt. Ich finde, man kann mehr Relief geben, wenn man hin und her springt.
Im Konzertleben führen die Sonaten ein Schattendasein. Woran liegt das?
Es war Artur Schnabel, der gesagt hat, Mozart sei zu leicht für Kinder und zu schwer für Erwachsene. Da ist was dran. Mozart stellt einen im guten Sinne bloß, man kann sich nicht verstecken. Dennoch verstehe ich es nicht ganz, warum man die Werke im Konzert so selten hört. Sie sind wirklich schön und ansprechend.
Auf der anderen Seite haben viele bedeutende Pianisten Mozarts Sonaten aufgenommen. Sich dem zu stellen, erfordert ja auch Mut.
Wenn einen das ins Grübeln bringt, dann nimmt man überhaupt keine großen Werke mehr auf. Ich erinnere mich an einen Meisterkurs bei Anne Queffélec, bei dem sie über genau diese Frage philosophiert und dann gesagt hat: Diese Musik braucht mich vielleicht nicht, aber ich brauche diese Musik. Das kann ich unterschreiben. Es geht darum, dass man als Künstler das tut, von dem man denkt, dass man es tun muss. Man schaut nicht auf die Konkurrenz, sondern sucht seinen eigenen Zugang. Ob der dann Eingang findet in irgendeinen Kanon, das ist außerhalb dessen, was ich beeinflussen kann. Ich mache meine Arbeit, und wenn sie sich später als für andere sinnvoll erweist, umso besser.
Die guten Kritiken geben Ihnen recht. Aber ist es nicht komisch, dass Sie über Jahre hinweg als der Mozart-Interpret gelten – dabei sind die Aufnahmen einige Jahre alt.
So schreibt das Leben seine Geschichte. Corona hat da reingegrätscht, und dann habe ich noch zwei Kinder bekommen, und so hat es eben länger gedauert mit der Veröffentlichung als gedacht. Es stimmt, ich habe in letzter Zeit auf der Bühne mehr Schubert, Chopin, Beethoven und Liszt gespielt als Mozart.
Sie glauben schon an die Qualität der großen Komponisten, oder?
Absolut. Es zieht mich dann doch immer wieder zurück zu bestimmten Komponisten. Ich habe das Bedürfnis, mich immer wieder neu in ihrer Musik auszudrücken.
Und Sie lieben Zyklen.
Ja, von den Beethoven-Sonaten gibt es bereits einen Live-Mitschnitt, von dem aber noch nicht klar ist, was damit passiert. Und gerade spiele ich einen Schubert-Zyklus, aber erst mal nur im Konzert. In diese Projekte kann man sich wirklich vertiefen. Allein die G-Dur-Sonate dauert 45 Minuten, das ist wirklich ein eigenes Universum, das man da erkundet. Es fasziniert mich immer mehr, je länger ich daran arbeite. Dass Schubert in seinem kurzen Leben die Zeit hatte, in diesen großen Formen so auf Detailsuche zu gehen und diese Werke mit dieser psychologischen Tiefgründigkeit auszuarbeiten, das ist schon phänomenal.
Sie haben sich in der Coronazeit intensiv mit dem Klang des Klaviers auseinandergesetzt. Mit welchem Ergebnis?
Mein Spiel hat sich tatsächlich maßgeblich verändert. Wie ein Pianist überhaupt seinen Klang erzeugt, ist ja eine uralte Frage, die noch nicht zufriedenstellend gelöst worden ist. Der Denkanstoß kam, als ich 2019 zur Vorstellung des Spirio r bei Steinway war. Da wird ja das Spiel eines Pianisten aufgenommen und später wieder abgespielt. Und die Pianisten vor Ort waren sich einig, dass es doch nicht wirklich so klingt, als würde ein Pianist spielen. Ich habe mich gefragt: Wie ist das möglich, dass da die besten Ingenieurskopfe zusammensitzen und es nicht hinkriegen? Da muss also irgendetwas fundamental noch nicht verstanden sein. Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass eines maßgeblich unterschätzt wird: dass der Flügel ein Ganzes ist und dass alles, was man reinsteckt an Energie, auch wieder rauskommt. Je nachdem, wie ich eine Taste anschlage, ob ich sie jetzt weich anschlage mit größerem Hebel oder spitz mit kleinerem Hebel, habe ich eine andere Klangfarbe. Das ganze Instrument ist ja eine riesige Verstärkungsmaschine. Alles, was ich hineingebe, kommt als Teil des Klangs wieder heraus. Das ist, glaube ich, der Schlüssel zum Verständnis, wie jeder Pianist anders klingt und wie man das gezielt steuern kann. Und wenn ich das einmal verstanden habe, kann ich den Klang besser gestalten. Dann gibt es noch jede Menge Detailfragen, die manchmal vergessen werden, das Pedal zum Beispiel – das Phänomen von halbem Pedal etwa wird kaum diskutiert. Oder die Dämpfer: Wenn man einen gesanglichen Ton möchte, muss man etwas intensiver drücken, damit der Dämpfer die Saite mehr freigibt. Will man einen gedeckten Ton, wird man versuchen, sehr flach anzuschlagen, damit der Dämpfer wieder näher bei der Saite zur Ruhe kommt. Dann erzielt man eine andere Klangfarbe. Dieses ganze Thema möchte ich auch einmal ins Zentrum einer Aufnahme stellen.
Das heißt, Sie haben tatsächlich Ihre Spieltechnik verändert?
Absolut. Ich gebe das auch an meine Schüler weiter, und die Resultate sind einfach überwältigend.
Dabei beschäftigen Sie sich seit vierzig Jahren mit dem Klavier, und zwar ziemlich erfolgreich. Sie sind schon mit 15 Jahren zum Studium nach Riga gegangen.
Es gab damals diese EU-Austauschprogramme, und unser Austausch war eine Art Pilotprojekt der Akademie in Riga. Das war 1995, kurz nach der Wende und schon ein bisschen ein Schock, als 15-Jähriger von hier dorthin zu kommen. Nach einem halben Schuljahr bin ich zurückgekommen und habe in Brüssel weiterstudiert als Jungstudent. Aber das war eine sehr prägende Erfahrung, weil das Niveau dort sehr hoch war. Das hat mich motiviert, mein Bestes zu geben.
Herrschte da noch die alte russische Schule?
Es waren alles bestens ausgebildete Pianisten. Teofils Bikis hat damals die Klavierabteilung geleitet, ein sehr feiner Musiker, ein Schüler von Lev Vlassenko. Ich habe nicht nur klaviertechnisch vieles mitgenommen, sondern auch musikalisch.
Trotzdem haben Sie danach noch eine richtige Tour durch die Hochschulen gemacht: Brüssel, München, Paris.
Ich war schon immer neugierig. Das spiegelt sich wahrscheinlich auch in meiner Pianistik wider, ich bin überhaupt nicht ideologisch unterwegs. Wenn etwas funktioniert, dann benutze ich das wie ein Werkzeug.
Würden Sie es empfehlen, bei unterschiedlichen Lehrern Unterricht zu nehmen?
Auf jeden Fall. Es ist nur wichtig, dass man das nicht zu früh tut. Man sollte erst ein paar Sachen grundsätzlich lernen. Aber als junger Erwachsener sollte man schauen, dass man möglichst viele Türen aufmacht und nicht zumacht.
Und dann haben Sie zwölf Wettbewerbe gewonnen.
Ja, das war, als ich in Frankreich gelebt habe. Da gab es diese Möglichkeiten, und ich habe mir gesagt, ich versuche es mal. Es ist im Prinzip eine gute Sache, um sich vorzubereiten auf den Beruf und sich einmal wirklich dem zu stellen, was man tut. Ein Wettbewerb zwingt einen zu einer Bestandsaufnahme. Es ist sehr leicht, als Künstler in der Vorstellung zu leben, man spiele großartig. Wobei sich mittlerweile jeder dauernd aufnimmt. Sich selbst zu kontrollieren, ist viel leichter geworden als damals, als ich studiert habe.
Und nun unterrichten Sie selbst hier am Conservatoire.
Auch schon wieder 15 Jahre. Das mache ich leidenschaftlich gerne. Es gibt einem wahnsinnig viel zurück, wenn man sieht, wie viel man als Lehrer bewirken kann. Ich denke, ich kann damit der Musik dienen. Das ist sowieso eigentlich das Hauptziel meines Lebens, der Musik zu dienen.
Aber es frisst auch viel Zeit.
Ich bin der Überzeugung, es bringt nichts, jeden Tag sechs Stunden zu üben. Und ich spiele trotzdem um die dreißig Konzerte im Jahr. Das balanciert sich gut aus. Ich spiele mittlerweile lieber etwas weniger, aber dafür mit großer Konzentration, mit großem künstlerischem Willen dahinter.
Ist Luxemburg ein guter Standort für einen Musiker?
Ja, ich finde schon. Es gibt hier wirklich sehr viele Möglichkeiten. Wir haben die fantastische Philharmonie, wir haben viele andere gute Konzertsäle. Es gibt tolle Schulen, die hervorragend ausgerüstet sind und gutes Personal haben. Es ist schon so ein bisschen ein Schlaraffenland.
Als Luxemburger sind Sie einerseits Exot und andererseits mittendrin gleichermaßen in der deutschen und der französischen Kultur.
Ja, schon. Das ist die luxemburgische Karte, die wird ja nicht nur in der Musik gespielt. (lacht)