
Klassiker im Schnee vor Tromsø
Wenn man diese Pressefotos sieht, möchte man als Chefredakteur am liebsten ein ganzes Sonderheft über die Arktische Philharmonie aus Tromsø und Bodø machen. Das wäre vielleicht des Guten zu viel. Doch einen Bericht hat das Orchester allemal verdient. Denn was die Nordnorweger auf die Beine gestellt haben, ist schon beachtlich. Und war wohl auch nur unter diesen besonderen Bedingungen möglich.
Zunächst muss man wissen, dass Norwegen dank Öl und Gas ein reiches Land ist, das sich Dinge leisten kann, die anderswo nicht zu finanzieren wären. Zum Zweiten muss man wissen, dass es in Norwegen quasi zur Staatsräson gehört, das ganze Land bewohnbar zu halten. Platt gesagt: Wenn sich jemand entscheidet, im hintersten Winkel Norwegens zu leben, soll er das tun können – und der Staat hat die Pflicht, ihm oder ihr eine vernünftige Infrastruktur bereitzustellen. Wer einmal in West- oder Nordnorwegen war, kann sich grob vorstellen, was das in diesem langgestreckten Gebirgsland mit seiner zerklüfteten Küste und den harschen Klimabedingungen bedeutet.
So tut der Staat alles, um das Leben auch im hohen Norden lebenswert zu machen. Und dazu gehört – für Norweger selbstverständlich – neben Lebensmitteln, Post, Internet, Gesundheit, Ausbildung und der Pflege der Natur auch die Kultur. Theatertruppen reisen an, überall gibt es Bibliotheken, Heimatmuseen, Kulturvereine, in Tromsø und Bodø, den beiden großen Städten der Region, sogar Universitäten. Und natürlich klassische Musik. In beiden Städten gab es schon lange professionelle Orchester, doch die waren klein besetzt und wohl auch nicht wirklich ambitioniert. So kam man, um die Klassik im Norden auf ein höheres Niveau zu bringen, auf die Idee, ein „richtiges“ Sinfonieorchester zu gründen: die Arktische Philharmonie, norwegisch Arktisk Filharmoni.
Weil man aber selbst in Norwegen nicht unbegrenzt Geld zur Verfügung hat und keine der Städte bevorzugen wollte, ersann man eine abenteuerlich anmutende Konstruktion: Ein Teil der Musiker, ausschließlich Streicher, ist in Tromsø beheimatet, gibt Konzerte als „Kammerorchester“ und hat einen eigenen künstlerischen Leiter, den Geiger Henning Kraggerud. Der andere Teil, die Bläser und ein Streichquintett, wohnt und arbeitet in Bodø und firmiert als „Sinfonietta“. Zusammen kommen beide Kammerformationen zehnmal im Jahr, um als „Sinfonieorchester“ in beiden Städten das große Repertoire zu erarbeiten und aufzuführen. Auch dafür gibt es einen Chefdirigenten, ein Nachfolger des Dänen Christian Kluxen wird gerade gesucht.
„Eigentümer“ der Arktischen Philharmonie sind die beiden Städte Tromsø und Bodø, finanziert wird sie vom norwegischen Staat, den beiden Kommunen, aber auch den drei nördlichsten Provinzen Norwegens. Und das bedeutet: Das Orchester ist auch für die klassische Grundversorgung grob gesagt der gesamten nördlichen Hälfte Norwegens zuständig – inklusive Spitzbergen, wo es jedes Jahr im Februar ein Kammermusikfestival organisiert (für die Einheimischen und für „High-End-Touristen“, wie der Marketingleiter Vidar Thorbjørnsen mit einem entschuldigenden Grinsen einräumt). Rund 200 Konzerte geben die Musiker im Jahr in den verschiedensten Besetzungen.
Was das Ganze zusätzlich kompliziert macht: Tromsø und Bodø sind vielleicht nicht ganz wie Köln und Düsseldorf, aber doch traditionell Konkurrenten. (Vidar Thorbjørnsen konnte es sich nicht verkneifen zu betonen, dass das kleinere Bodø die bessere Fußballmannschaft hat: Glimt gewann drei der letzten vier norwegischen Meisterschaften.) Und sie liegen Luftlinie 330 Kilometer voneinander entfernt – was bei den landschaftlichen Gegebenheiten etwa zehn Stunden Autofahrt (inklusive Fähre) oder 15 Stunden mit dem Postschiff bedeutet. Das Verkehrsmittel der Wahl ist also, sofern keine Instrumente o.ä. transportiert werden müssen, das Flugzeug. Da man aber aus ökologischen Gründen nicht dauernd hin- und herjetten will, bedeutet das, dass die Musiker in den Probephasen für einige Tage in der jeweils anderen Stadt übernachten. Und weil das Management auf beide Städte verteilt ist, waren hier schon lange vor Corona Teams- oder Zoom-Sitzungen selbstverständlich, erzählt Thorbjørnsen mit erneutem Grinsen. Das sei eben der Auftrag, den das Orchester zu erfüllen hat. Und wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.
Fast ebenso erstaunlich ist, dass das Orchester trotz all dieser Schwierigkeiten von ausgezeichneter Qualität ist. Das mag daran liegen, dass im Orchester viele junge Musiker spielen – die übrigens aus aller Welt kommen (Arbeitssprache ist aber weiterhin Norwegisch). Das mag am Leiter des Kammerorchesters, Henning Kraggerud, liegen, der nicht nur ein exzellenter Geiger, sondern überhaupt ein mitreißender Musiker ist. Das liegt sicherlich auch am neuen, optisch gelungenen und akustisch exzellenten Konzerthaus „Stormen“ in Bodø, das 2014 eingeweiht wurde. (In Tromsø steht ein Neubau kurz vor dem Baubeginn.)
Und das liegt vielleicht auch daran, dass man es eben der Welt zeigen will. Die Arktische Philharmonie beschränkt sich längst nicht auf die musikalische Grundversorgung der Region (das machen sie u.a. mit erstaunlich vielen Kinderprojekten natürlich auch). Das Konzertprogramm ist durchaus ambitioniert, immer wieder werden Werke in Auftrag gegeben, die dann hier uraufgeführt werden – wie gerade im Mai das Schlagzeugkonzert von Detlev Glanert, mit Christoph-Mathias Mueller als Dirigent und Christoph Sietzen als Solist. Die Arktische Philharmonie arbeitet regelmäßig mit samischen Künstlern zusammen (die Samen sind die Urbevölkerung Lapplands mit eigener Kultur und Sprache), unternimmt Tourneen bis hin nach China und Japan, ins Concertgebouw und den Wiener Musikverein und nimmt erstaunlich viele CDs auf – es war zum Beispiel als Begleitorchester des Trompeters Pacho Flores das erste norwegische Orchester überhaupt, das für die Deutsche Grammophon aufgenommen hat.
Und selbst Oper wird hier gespielt. Für szenische Aufführungen können die Bühnenwände im Bodöer Konzerthaus hochgefahren, das Orchesterpodium also in eine Theaterbühne verwandelt werden. Leider hat auch hier die Pandemie Spuren hinterlassen, die letzten Opern wurden kostenbedingt nur noch konzertant gegeben. Dabei seien gerade die Opern sehr beliebt, sagt Marketingmann Vidar Thorbjørnsen. Überhaupt seien die Städter stolz auf ihr Orchester, die Auslastung sei gut. Das ist in Bodø mit seinen rund 40.000 Einwohnern (und im 900 Menschen fassenden Konzertsaal) sicherlich schwerer als in Tromsø, das nicht nur 30.000 Einwohner mehr hat, sondern auch wesentlich mehr Touristen anzieht – die dann auch die Konzerte besuchen.
Anlässe, als Klassik-Freund in den hohen Norden zu reisen, gibt es immer wieder. Zum Beispiel zur Saisoneröffnung am 29./30. August mit Brahms’ erstem Klavierkonzert und Rachmaninows dritter Sinfonie, oder wenn Matthias Goerne Bach singt und außerdem unter Leitung von Jean-Christophe Spinosi Debussy, Dukas und Ravel erklingen (31. Oktober/1. November).
Wer das Orchester in bester Akustik erleben will, sollte nach Bodø reisen, das ja auch eine der Kulturhauptstädte Europas 2024 ist (das Programm ist allerdings überschaubar). Wer bei der Gelegenheit Polarlichter sehen möchte, sollte eher nach Tromsø fliegen. Deshalb kommen auch so viele vor allem asiatische Touristen nach Tromsø – dass die Stadt weiter nördlich liegt, macht eine Menge aus. Auch an Museen und städtischem Flair hat Tromsø mehr zu bieten. Aber die Natur ringsum ist an beiden Orten sensationell. Beide Städte sind sympathisch und bieten zahlreiche Cafés und Restaurants – und die norwegische Küche hat inzwischen einen exzellenten Ruf. (Allerdings, das muss man auch sagen, ist Norwegen ein teures Reiseland.)
Eigentlich sollte man meinen, ein kleines Sinfonieorchester an der Peripherie Europas habe überregional keine Chance. Doch die nutzen die Nordnorweger. Indem sie mit Herzblut spielen. Indem sie interessante Programme auf die Beine stellen. Und nicht zuletzt, indem sie gutes Marketing machen. Solch schöne Pressefotos wie das nördlichste professionelle Sinfonieorchester der Welt (auf Spitzbergen gibt es noch ein Amateurorchester) hat kaum ein anderes Ensemble zu bieten.