
Dass der Klassikbetrieb in Sachen Internet und soziale Medien der Entwicklung immer ein bisschen hinterherhinkt, ist kein Geheimnis – und ließ sich gut in der Corona-Pandemie beobachten, als viele Musiker und Konzerthäuser den Umgang mit Webcams erst einmal lernen mussten und mit der Organisation von Livestreams nicht selten überfordert waren.
Jedoch gelangen in den letzten Jahren mit dem Nachwuchs immer mehr Digital Natives aufs Podium, die das Leben ohne Smartphone und WLAN gar nicht mehr kennen. Dazu gehört auch die Französin Esther Abrami, Jahrgang 1996, die schon früh begann, digitale Kommunikation sehr effektiv für sich zu nutzen. Während ihres Geigenstudiums in Manchester, London und Birmingham dokumentierte sie ihren Lernalltag ausführlich im Netz, teilte mit Witz und Selbstironie ihre Erfahrungen am Instrument, gab kleine Werkeinführungen oder dachte sich kurze Geigen-Sketche aus. Mit ihrer schnell wachsenden Internet-Fangemeinde, insbesondere auf der Plattform TikTok, interagierte sie fleißig, was ihr die Bezeichnung „Klassik-Influencerin“ einbrachte, lange bevor sie in großen Konzertsälen auftrat.
Bald wurden Plattenfirmen auf Abrami aufmerksam. Sony Classical nahm sie unter Vertrag und verschaffte ihr so den nächsten Popularitätsschub – weshalb sich nun zwischen ihren Übungsvideos auf YouTube oder Facebook immer häufiger Clips von Studioaufnahmen finden sowie von ihren Konzertreisen in alle Welt.
„Die sozialen Medien sind eine gute Möglichkeit, über klassische Musik zu sprechen und mit dem Publikum in Kontakt zu treten“, erzählt Abrami bei unserem Videotelefonat. „Teenager können mich so im normalen Leben sehen, hinter der Bühne.“ Für ihre Fans macht sie das nahbarer, „es ist schwieriger, sich mit einem Künstler zu identifizieren, den man immer nur perfekt während eines Konzertauftritts erlebt“.
Ihre regelmäßige Arbeit vor der Kamera zahlt sich aus, mittlerweile folgen ihr viele Internet-Follower auch in den Konzertsaal, was häufig den Altersschnitt im Publikum deutlich senkt. Oft würden ihr Fans schreiben, dass sie zum ersten Mal eine Philharmonie besuchten. Programmatisch bettet Abrami diese Neuankömmlinge in der Offline-Klassikwelt bislang sehr weich.
Filmmusik wechselt sich ab mit kurzweiligen Romanzen, Erik Satie oder einer Sonate von César Franck. Mal ist ein Walzer aus dem populären Videospiel „Final Fantasy“ dabei, mal Vaughan Williams’ „The Lark Ascending“, oder Abrami covert gefühlvoll den Nummer-eins-Hit „Flowers“ von Miley Cyrus.
„Ich habe ein sehr gemischtes Publikum und versuche, dass es für die Zuhörer nicht zu anstrengend wird. Wir haben heute ein anderes Zeitempfinden als die Menschen zu Mozarts oder Beethovens Zeiten. Wenn eine Sinfonie dreißig Minuten dauert, ist das heute für junge Menschen schon sehr lang.“
Als Solistin in Violinkonzerten konnte man Abrami bisher nur selten erleben. „Ich fühle mich weniger frei, wenn ich etwas interpretiere, das schon so häufig aufgeführt wurde“, sagt sie zur Begründung. Seit Kurzem hat sie allerdings das wenig bekannte spätromantische Konzert der irischen Komponistin Ina Boyle (1889-1967) im Gepäck. Abrami hat es für ihre dritte CD „Women“ eingespielt, auf der sie sich ausschließlich Komponistinnen widmet.
Darunter sind einige hörenswerte Entdeckungen, etwa die französische Sängerin und Komponistin Pauline Viardot (1821-1910) oder die aus Brasilien stammende Chiquinha Gonzaga (1847-1935). Abrami selbst arrangierte ein Wiegenlied der im Konzentrationslager Theresienstadt ermordeten jüdischen Dichterin und Komponistin Ilse Weber für Geige und Streichquartett.
Es sei ihr bislang persönlichstes Projekt, sagt Abrami über das Album, was auch der emotionalen Einleitung anzuhören ist: Hier kombiniert die Französin eine Rede von Emmeline Pankhurst, die einst in Großbritannien für das Frauenwahlrecht kämpfte, mit einem Streicher-Arrangement des „March of the Women“ von
Ethel Smyth, die 1912 selbst für ihren Kampf um ebenjenes Recht ins Gefängnis ging.
„Werke von Frauen kommen auf den Spielplänen immer noch selten vor. Es würde mich freuen, wenn ich dazu beitragen könnte, dass mehr Menschen auch diese Musik hören wollen – nicht weil sie von Frauen ist, sondern weil sie Qualität hat.“ Den Fokus auf starke Frauen legt Abrami bisweilen auch im Netz, wo sie in der eigenen Interviewreihe „Women in Classical“ mit einflussreichen Musikerinnen über ihre Karriere spricht.
Es wäre verfehlt, Esther Abrami, die sich oft in aufsehenerregenden Designkleidern und gern auf roten Teppichen zeigt, als neues It-Girl der Klassik abzutun. Vielmehr nutzt sie geschickt die gewonnene Prominenz und ihre charmante Bühnenpräsenz, um Dinge anzustoßen, Aufmerksamkeit auf Unbekanntes zu lenken und ein junges Publikum anzusprechen.
„Wir brauchen heute auf jeden Fall Leute, die eine Brücke bauen zwischen der Klassik und der jungen Generation, und mir gefällt die Rolle als Vermittlerin sehr gut.“ Sie wolle niemand ausschließen, weder durch TikTok sozialisierte Teenager noch konservative Hörer. Veränderungsbedarf in der Klassik sieht sie aber in jedem Fall: „Manche Dinge müssen sich weiterentwickeln, um relevant zu bleiben. Damit meine ich nicht die klassische Musik an sich, aber die Art, wie wir sie präsentieren. Da braucht es immer mal wieder ein Update.“ Abrami selbst lockert die Atmosphäre in ihren Konzerten gerne mit Moderationen auf. „Wenn ich die Werke von wenig bekannten Komponistinnen aufführe, erzähle ich erst mal etwas darüber, um es den Menschen besser zugänglich zu machen.“
Mit 28 Jahren steht Esther Abrami noch am Anfang ihrer Karriere, als Interpretin und Klassikbotschafterin hat sie großes Potenzial – vielleicht auch als Komponistin. So hat Abrami für die neue CD das Stück „Transmission“ geschrieben, eine schwebende Elegie für Geige und Orchester, die bei ihren Fans gut ankommen dürfte. Seit einem Jahr nehme sie Kompositionsunterricht, berichtet sie und hofft, „in ein paar Jahren ein ganzes Album mit eigenen Kompositionen aufnehmen zu können. Vielleicht schreibe ich eines Tages mein eigenes Violinkonzert“. Genug Selbstbewusstsein dafür hätte Abrami auf jeden Fall.