
Die Schlosskapelle in Torgau
Wer wissen will, mit welchem Elan und welcher inneren Freude eine neue geistige Bewegung aufbrechen kann, wenn sie erste Erfolge errungen hat und Zukunftshoffnungen hegen darf, der sollte Johann Walters Motette „Beati immaculati“ hören: einige Zeilen aus dem 119. Psalm, nicht mehr als fünf Strophen in ebenso vielen Minuten – aber wie viel Licht und Zuversicht! Das Stück erklang zur Weihe der Torgauer Schlosskirche im Oktober 1544, des ersten Baues, der bereits in seiner Planung konsequent Martin Luthers Vorstellungen eines evangelischen Predigtraumes umsetzte. Er selbst stand auf der Kanzel, die Hofkapelle, verstärkt durch die städtische Kantorei, sang und spielte Walters Musik – allerdings mit dem alten lateinischen Text und nicht in Luthers Übersetzung; wobei diese Toleranzgeste gegenüber dem herkömmlichen Brauchtum eigentlich nur ein Beweis mehr war, wie jugendfrisch und kraftvoll sich die neue Bewegung fühlte.
Es war erst einmal nur eine Scheinblüte: Anderthalb Jahre später war der Reformator tot, 1547 endete die Schlacht beim nahen Mühlberg mit einer herben Niederlage für die junge protestantische Bewegung; Kurfürst Johann Friedrich, von den Alt- und Bassstimmen in der Motette ebenso namentlich adressiert wie Luther selbst, geriet in Gefangenschaft und sah Torgau nie wieder. Neuere Forschungen bezweifeln sogar, dass die dortige Kapelle wirklich die erste „protestantisch gedachte“ der Kunstgeschichte war – nur: Sie befand sich im Herzland der neuen Bewegung und folgte einem klaren gesamtkünstlerischen und – mit heutigen Begriffen gesprochen – ideologischen Konzept, zu dem auch die bei der Weihe erklingende Musik gehörte. Das gibt dem Bau ebenso wie Walters mitreißenden Klängen eine Sonderstellung.
Denn natürlich könnte man, soweit es um Auftragskompositionen geht, ansonsten generalisierend sagen, dass bis ins 18. Jahrhundert hinein ohnehin fast alle Kunst im Auftrag von Adel oder Klerus entstand – jener Kräfte also, die über die herrschenden Ideen ebenso verfügten wie über die erforderlichen Finanzen. Im Falle der Torgauer Kirchweihe aber gab es eine deutlich fokussierte Zielrichtung, sodass man hier durchaus von einer politischen Auftragskomposition sprechen kann – was die Walter-Motette mit so grundverschiedenen Werken wie beispielsweise Verdis „Aida“ und Schostakowitschs „Lied von den Wäldern“ verbindet.
Dabei zeigen die drei Werke – zeitlich, ästhetisch und in ihren Wirkungsabsichten Lichtjahre voneinander entfernt – auch einige der oft fragwürdigen Begleiterscheinungen politisch beauftragten Komponierens. Denn nur bei Walter darf man uneingeschränkt davon ausgehen, dass er als überzeugter Anhänger der Reformation voll und ganz hinter den von ihm musikalisch propagierten Ideen stand. Beim Italiener und beim Russen hingegen fällt einem sofort die Wendung von „Zuckerbrot und Peitsche“ ein, mit denen die jeweils Regierenden auch die Kunstwelt nach ihren Vorstellungen zu regulieren versuchten. Im Falle Verdis konnte dabei die Peitsche im Arsenal bleiben, denn das Zuckerbrot war wohlschmeckend genug: Nachdem sich der weltberühmte Komponist anfangs geziert hatte, dem Anliegen einer Festoper zur Eröffnung des Suezkanals und des Kairoer Opernhauses zu folgen, forderte er schließlich vom ägyptischen Herrscher Ismail Pascha die sozusagen pyramidale Summe von 150.000 Goldfranken (man darf das zur Umrechnung in unseren Euro getrost vervierfachen) – und bekam sie. Für die eigentlichen Auftragsanlässe erschien das Werk trotzdem zu spät, doch zum Ausgleich können sich Ägypten und die musikliebende Menschheit – auch weil der Komponist die repräsentativen Prunkszenen durch eine Liebeshandlung unterlief, die alles imperiale Machtgebaren deutlich infrage stellt – seitdem für eines der schönsten und anrührendsten Werke Verdis überhaupt bedanken.
Analoges wird man nun für Schostakowitschs Oratorium von 1949 kaum sagen können, obwohl dieses „Lied von den Wäldern“ trotz seines staatstragenden Pathos und einer gewissen Pseudo-Folkloristik ein gut zu hörendes Werk ist; zudem ist ja die Aufforstung neuer Gehölze als menschheitspositive Tat seitdem nicht weniger aktuell geworden. Bleibt also der Personenkult um den „großen Führer“ Stalin, der im Ursprungstext womöglich noch plakativer ausformuliert war als in heute gespielten Fassungen. Eine gewiss immer neu zu stellende, aber sicher verschieden beantwortbare Frage ist, ob solch ein unbezweifelbarer, aber für den Künstler und seine Familie vielleicht existenzsichernder Opportunismus unter diktatorisch-repressiven Bedingungen gleich das ganze Werk suspekt machen muss. Seine optimistische Lebenszugewandtheit jedenfalls darf man insofern ehrlich finden, als sich im Bemühen um einen schnellen wirtschaftlichen Wiederaufbau des kriegszerstörten Landes auch Kräfte zusammenfanden, die sich sonst wenig zu sagen hatten.
Es ist ja kein Zufall, dass sich solche patriotischen Exklamationen bei Schostakowitsch gerade im ersten Nachkriegsjahrzehnt häufen. Einerseits war er, wie viele Kollegen, durch die Shdanow-Dekrete von 1948 neuerlich, wie schon vor dem Krieg, hartem politischem Druck ausgesetzt; zum anderen aber mochte er sich tatsächlich einer Art Einheitsfront-
Illusion eines neuen, durch die Leiden des Krieges zusammengeschweißten Bundes zwischen Führung und Volk hingeben. Seine grundsätzliche und durch bittere Erfahrungen bekräftigte Skepsis gegenüber den Herrschenden wanderte dann in die eher privaten, fast durchweg textlosen Kompositionen, wie zum Beispiel seine Streichquartette, oder wurde doppelbödig maskiert, ohne dass deswegen solche Werke wie das „Wälder“-Oratorium, das „Poem von der Heimat“ (1947) oder die Kantate „Über unserer Heimat strahlt die Sonne“ fünf Jahre später nur als pure Gefälligkeitskompositionen abklassifiziert werden müssen.