Anton Bruckners fünfte Sinfonie – eine der wenigen, bei denen es für ihn selbst kein Zweifeln an der einmal eingeschlagenen Linie gab – ist eine Kosmologie, die den Blick auf das Weltganze in Raum und Zeit richtet. Etwas verkürzt könnte man sagen, dass in dem monumentalen B-Dur-Werk die Zeit mit ihren psychologisch empfundenen Dehnungen und Verdichtungen vor allem zum Gegenstand des Finales mit seinen hochkomplexen kontrapunktischen Verflechtungen wird, während sich der Beginn der Sinfonie erst einmal konzentriert der Beschreibung des Raumes widmet: als im Wortsinn All-umfassendem, potenziell unendlichem Welt- und gleichzeitig als unmittelbar erfahrbarem Klangraum, der natürlich, weil im Fluss befindlich, immer auch der Zeit angehört und im Fortgang der Sinfonie später noch zweimal wiedererscheinen wird.
Bässe und Celli beginnen im Pizzicato mit leisen, quasi in eine unendliche Leere fallenden Tontropfen. Danach kommen taktweise versetzte, von den Bratschen zu den ersten Violinen aufsteigende und in ihren Schichtungen zwar akkordbildende, aber dabei kaum bewegte Liegetöne hinzu: Die erste Minute des Werkes zeichnet das Bild eines endlos weiten, aber leeren Raumes im diffusen Dämmern fern-kalter und nicht lokalisierbarer Lichtquellen – ein unbelebtes Chaos wie am Beginn von Haydns „Schöpfung“. Dann reißt unvermittelt ein über zwei Oktaven emporgeschleuderter Ges-Dur-Akkord hämmernd hart ein Loch in dieses Gewebe öder Erstarrung: eine gewaltsame Eruption, übergangslos siedende Hitze nach kosmischer Kälte, fortissimo nach pianopianissimo und, raumtechnisch gesehen, das Auswerfen und Sedimentieren schwerster Massen (bekräftigt im unmittelbar folgenden, quasi bleigewichtigen Choral der Blechbläser) als Kontrast zur fast richtungslosen Zerstreuung der Einleitungstakte. Damit sind jene Raum-Markierungen gesetzt, innerhalb derer sich die folgenden 80 Minuten entwickeln können.
Natürlich gab es schon lange vor Bruckner musikalische Verfahrensweisen, um räumliche Konstellationen klanglich abzubilden. Voran die elementare Erfahrung, dass Leises meist ferner, Lautes näher wirkt – besonders handfest umgesetzt in diversen Echoeffekten. Auch die Erkenntnis, dass tiefe Töne uns sozusagen näher auf den Leib rücken als hohe, gehörte schon lange zum hörpsychologischen Allgemeingut. Sie fand in den „Engelsstimmen“ religiös konnotierter Werke ebenso Anwendung wie beispielsweise auch in dem für Bruckner nachhaltig prägenden Wagner’schen „Lohengrin“ mit seiner quasi aus der Höhe herabsteigenden Gralsthematik gleich zu Beginn des Vorspiels. Schließlich waren es manchmal auch Farbwerte, die per Assoziation Räumliches suggerieren konnten. Das galt zum Beispiel für das weich-getragene und oft quasi raumweitende, ins Ferne weisende Timbre eines legato gespielten (und vielleicht noch zusätzlich leise verklingenden) Horns, wie man es schon bei Mozart, Beethoven und dann öfter bei den direkten Zeitgenossen Bruckners erleben kann wie etwa im d-Moll-Klavierkonzert seines Wiener Antipoden Brahms.
All das kannte der österreichische Spätzünder bestens und nutzte es selbst gebührend aus. Doch bei ihm kam für seine Raumklangvorstellungen noch eine andere, biographisch bedingte Komponente hinzu, die der französische Dirigent und Bruckner-Experte François-Xavier Roth so zusammenfasst: „Für mich wurzelt Bruckner in der Traditionslinie von Bach, dessen Werke er ja in seinem ‚Erstberuf‘ als Organist ständig im Repertoire hatte. Mit diesen Erfahrungen ging es ihm auch als Sinfoniker um die Klarheit und Deutlichkeit der Klänge in großen Räumen wie jenem, den er schon seit jungen Jahren von ‚seiner‘ Stiftskirche in St. Florian kannte. Die Art, wie er in seinen musikalischen Abläufen gleichsam Kommas setzt oder in den langen Sequenzketten Streicher und Bläser einander antworten lässt, bezieht immer die räumliche Ausbreitung mit ein, die er an der Orgel anders zu kalkulieren gelernt hatte als beispielsweise Kollegen, die ihre Gedanken vom Klavier her entwickelten.“
Der Dirigent, dessen Kompetenz in solchen Fragen auch daraus erwächst, dass er selbst im Bannkreis der riesigen Orgeln von Sacré-Cœur und St. Sulpice in Paris groß geworden ist, die sein Vater Daniel Roth über 50 Jahre lang bespielte, reagiert in seinen Interpretationen auf diese „kirchenräumlichen“ Prämissen in Bruckners Sinfonien unter anderem dadurch, dass er jene Zäsuren, die der Komponist setzt, um Klänge sich ausbreiten und aushallen zu lassen, besonders deutlich betont und nicht durch „falsche“ Legato-Bindungen verschmiert. Zu hören ist das nicht nur nach massiven Tutti-Blöcken und bei den vielen von Bruckner vorgeschriebenen, aber oft mehr oder minder ignorierten Generalpausen, sondern auch in weniger lauten Passagen wie den präludierenden Einleitungstakten vor dem polternden Hauptthema im Scherzo der dritten Sinfonie: trotz des schnellen Tempos werden diese huschenden Floskeln in Roths Aufnahme der 1873er Urfassung mit dem Kölner Gürzenich-Orchester klar abgesetzt und fast punktuell genommen.