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Jubiläen
Möbelstücke in leeren, weißen Räumen
Morton Feldman bringt Malerei und Musik, Bewegung und Stille, Rhythmus und Farbe zusammen. Am 12. Januar wäre der US-amerikanische Komponist hundert Jahre alt geworden
Von
Susanne Benda
Rob Bogaerts / Anefo

Morton Feldman, 1976

Tropfen, Streifen, Pinselstriche. Pizzikati und kurze Bogenphrasen. Verdichtungen, Pausen, leere Leinwand. „Pollock paints“ heißt der nur gut eine Minute lange zweite Satz der Musik für zwei Celli, die Morton Feldman 1950 zu einem Dokumentarfilm über den Maler Jackson Pollock schrieb. Diese Filmmusik war ein Wendepunkt im Schaffen des damals erst 24-jährigen Komponisten: Mit „Jackson Pollock“ gelangte der Schüler von John Cage in den Fokus der Wahrnehmung, und er hat Ideen und Herstellungsarten der bildenden Kunst mit seiner Kunst verschmolzen. „Wenn ich an diese Zeit zurückdenke“, erinnerte er sich später, „dann fällt mir auf, wie sehr die musikalischen Ideen, die ich um 1951 hatte, Pollocks Arbeitsweise entsprachen. Pollock legte seine Leinwand auf den Boden und ging um sie herum, während er malte. Ich hängte mein Karopapier an die Wand, jedes Blatt rahmte dieselbe Zeitdauer ein und war im Grunde eine visuelle rhythmische Struktur. Was Pollock glich, war meine ‚All-over‘-Herangehensweise an diese Zeit-Leinwand.“

Das heißt, es geht um zweierlei. Einerseits um einen Prozess, um die Entstehung von Kunst. Und andererseits um die Wahrnehmung des künstlerischen Ergebnisses, eines Ganzen, das wirkt wie ein gefrorener Augenblick. Musik als Kunst der vergehenden Zeit und Malerei als Kunst der angehaltenen Zeit: Sie kommen sich bei Morton Feldman ungemein nahe.

Das liegt auch an der speziellen Ausformung des abstrakten Expressionismus, für die sich der am 12. Januar 1926 in New York geborene Komponist damals begeisterte. Beim sogenannten Action Painting wird mit Farbe gespritzt, getropft und grob gemalt; es gibt keinen Plan, keinen vorausbestimmten Bildaufbau (die Übergänge zur Kunstrichtung des Fluxus sind fließend). „Die Malerei“, hat Pollock einmal gesagt, „hat ein eigenes Leben, und ich versuche, sie leben zu lassen.“ Ebenso tut es Morton Feldman mit der Musik. Als einer der Ersten hat er seine Werke zwischenzeitlich grafisch notiert – eine logische Folge jener offenen Form, die Komponisten der New Yorker Schule wie etwa John Cage, Earle Brown und Christian Wolff postuliert haben. Wie die Idee des Action Paintings ist diese Offenheit eine Frucht des antiautoritären Zeitgeists, in der Musik darf man sie außerdem als Reaktion auf die Über-Determination des seriellen Komponierens begreifen. Bei Feldman gipfelte das Experimentieren mit einer Notation, die er selbst nie als ungenau verstand, sondern als „ebenso präzise wie Pollock“, in der Serie der fünf „Projections“.

Tatsächlich gibt es hier sehr viel Genauigkeit – nur eben eine andere. Auf Millimeterpapier findet Feldman präzise Symbole für die unterschiedlichen instrumentalen Register, arabische Ziffern im Klavierpart geben die Anzahl der gleichzeitig zu spielenden Töne an, und den rhythmischen Verlauf markieren „Zeitkästen“, die jeweils vier Schläge (ein Viertel = ca. 72) enthalten; die Länge eines darin aufgezeichneten Rechtecks bestimmt die Dauer des Klangs, seine Platzierung innerhalb des Zeitkastens den Einsatzzeitpunkt. „Mein Wunsch“, so Feldman, „war hier, nicht zu ,komponieren‘, sondern Klänge in die Zeit zu projizieren, frei von kompositorischer Rhetorik.“

1970/71 wandte sich Morton Feldman ab von der „Indeterminacy“ seines Lehrers John Cage. Schon zuvor hatte er gelegentlich zwischen traditioneller und grafischer Notation gewechselt – „wie jemand, der einmal eine Skulptur macht und dann ein Gemälde“. Seine Rückkehr zur konventionellen Notenschrift in den 1970er Jahren fußte in seiner Enttäuschung über die klischeelastige Art, mit der einige Interpreten aus seinen Klangabenteuern virtuose Selbstdarstellungsimprovisationen gemacht hatten. Außerdem spürte Feldman, dass er das Verhältnis zwischen Klang und Stille, Ton und Pause in grafisch notierten Stücken nicht so präzise regeln konnte, wie dies aus seiner Sicht nötig war.

John Cage hat jegliche Art von Personalstil vehement abgelehnt, nicht jedoch sein Schüler. Bei genauem Zuhören bemerkt man in Feldmans Musik oft kleine Motivzellen, die den von viel Stille und zahlreichen Pausen geprägten Klangräumen Struktur geben. Der Komponist hat diese musikalischen Figuren gerne als „ausgewählte Möbelstücke in leeren, weißen Räumen“ bezeichnet; zuweilen stellt sich vor den betrachtenden Ohren eine fast dramatische Spannung zwischen diesen Gegenständen her.

Insgesamt kann der Einfluss von Jackson Pollock, Philip Guston und Willem de Kooning, also den prominenten Vertretern des Action Paintings, auf Morton Feldman nicht hoch genug eingeschätzt werden. Und neben Pollock hat der Komponist auch den zwei anderen Künstlern in eigenen Werken Denkmäler gesetzt. Ebenfalls für einen Dokumentarfilm schrieb er Anfang der 1960er Jahre „De Kooning“ für Horn, Schlagzeug, Klavier, Violine und Cello; dieses Stück, das vom Wechsel zwischen präzise notierten Akkordpassagen und freien Klangphrasen lebt, hat Feldman auch als eigenständiges Werk zum Druck freigegeben. 1984 schließlich entstand „For Philip Guston“, ein Trio für Flöte, Schlagzeug und Klavier, und dieses Stück steht für eine Qualität, die man bis heute ganz besonders mit Morton Feldman verbindet: die Aufhebung der Zeit. „For Philip Guston“ dauert 240 Minuten, nach Aussage des Komponisten nimmt es uns mit „auf diesen Trip, auf dem ich keine Fragen stelle“. Und Feldmans 1983 entstandenes zweites Streichquartett dauert zwar nicht 639 Jahre wie das monumentale Orgelwerk „Organ²/ASLSP“ von John Cage, ist aber mit einer Dauer von 320 Minuten immerhin das längste Kammermusikwerk der Musikgeschichte.

Anfang der 2000er Jahre hat das Pellegrini-Quartett dieses Stück im Freiburger Studio des Südwestrundfunks aufgeführt. Beginn um Mitternacht, Ende gegen 5.30 Uhr. Leises Aufstehen war zwischendurch erlaubt, Verpflegung gab es im Foyer – allerdings nur für das Publikum. Die Streicher mussten durchhalten. „Zeit-Leinwände“ haben die Veranstalter das Konzert damals genannt, und tatsächlich erlebt man bei diesem Werk musikalische Gesten, die durch ihre minimalistischen Wiederholungen zerfließen und zu Klangfarben werden. Diese wiederum stellt jeder beim Hören in seinem eigenen Kopf her – und belegt so die These des Komponisten, Musik sei weniger eine Form der Kunst als eine Form des Erinnerns. Entsprechend wandeln sich die Musiker von Interpreten zu Gedächtnisgehilfen. Bis zu jenem finalen Moment, an dem das Stück einen mit einem klaren Schluss urplötzlich aus der Zeitlosigkeit herauskatapultiert.

Die Nähe zu Edgard Varèses Idee der Projektion von Klang im Raum liegt auf der Hand. Feldman hat Varèses Musik als „schwebende Skulptur“ bezeichnet und selbst stets nach einem Klang gesucht, der als „völlig plastisches Phänomen“ Ideen der Malerei einschließen sollte: „Die Grade der Statik, wie man sie bei einem Rothko oder einem Guston findet, waren vielleicht die bedeutendsten Elemente, die meine Musik aus der Malerei übernommen hat.“ Rothko hat Feldman übrigens 1971 auch ein klingendes Denkmal gesetzt: in seinem Chorwerk „Rothko Chapel“ von 1971. Es gab noch mehr visuelle Einflüsse, sogar die Webmuster türkischer Teppichknüpfer haben ihn inspiriert. Sein 1986 entstandenes letztes Orchesterwerk „Coptic Light“ übersetzt Farbe und Struktur koptischer Textilien in Klänge: Instrumente oszillieren rund um ein sanftes Unisono wie ein orchestrales Klavierpedal.

Generell sind Feldmans Werke leise Monologe. Mit einer prominenten Ausnahme: Anfang der 1970er Jahre begegnete Feldman der Bratschistin Karen Phillips und widmete ihr den Zyklus „The Viola in my Life“. „Ich bin verliebt!“, bekannte er damals, „ich kann sogar Fortissimo schreiben!“ Zumindest das Fortissimo kam danach aber nicht mehr vor, ebenso wenig wie die Dominanz des Melodischen, mit der diese Werkgruppe überrascht.

Eine weitere durchgehende Eigenschaft von Feldmans Musik ist ihre Eigendynamik. Im Unterschied zur Minimal Music, also zu Kompositionen etwa von Terry Riley, Steve Reich oder Philip Glass, formt Feldman mit seinen Repetitionen allerdings keine tonalen Strukturen, sondern fokussiert auf in jeder Hinsicht indeterminierte Klänge, die sich vor den Ohren der Zuhörenden entwickeln – vorausgesetzt, diese sind bereit, wie beim Betrachten von Bildern innezuhalten und sich einzulassen.

Komponiert hat Morton Feldman bis zu seinem Tod 1987, und so lange hat er auch als Professor an der Universität von Buffalo Komposition unterrichtet. Sogar eine Oper, „Neither“, hat er geschrieben – oder jedenfalls eine Musik, die sich auch in szenischer Weise auf einen Text bezieht. Den hat 1977 Samuel Beckett entworfen: Sein nur 16-zeiliges Gedicht, vorgetragen von einem in höchsten Lagen schwebenden Sopran, ist eine Reflexion über die Vergeblichkeit allen Tuns.

Warum dann überhaupt komponieren? Diese Frage hat der stets schlagfertige Feldman einmal so beantwortet: „Sie kennen die wunderbare Bemerkung Disraelis? Er war leider kein guter Schriftsteller, aber wenn er einer gewesen wäre, wäre die Bemerkung großartig gewesen. Man fragte ihn, warum er angefangen hatte, Romane zu schreiben. Er antwortete: weil er nichts zu lesen hatte. Bei mir war es ähnlich mit der zeitgenössischen Musik. Ich war nicht glücklich mit ihr.“

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