
Manch einer mag sich schon einmal gefragt haben: Wofür steht eigentlich die Abkürzung „KV“ in der Musik? Für Kassenärztliche Vereinigung, für Kartellverband, Kabelverzweiger oder Kanalverstärker? Passt alles nicht, ebenso wenig die meisten anderen der 28 vom freien Wörterbuch Wiktionary zur Auswahl gestellten Begrifflichkeiten. Für Musiker und Musikliebhaber gehört es dagegen zur Allgemeinbildung: KV steht natürlich für das „Köchel-Verzeichnis“! Seit mehr als 160 Jahren dient das Kürzel in Kombination mit einer bestimmten Zahl dazu, die Werke von Wolfgang Amadeus Mozart zu systematisieren. Im Laufe der Jahre wurde das System immer wieder aktualisiert und verbessert, und im vergangenen Jahr hat es nun ein neues Entwicklungsstadium erreicht. Am 19. September 2024 wurde die neueste Ausgabe des Köchel-Verzeichnisses im Großen Saal der Internationalen Stiftung Mozarteum in Salzburg der Öffentlichkeit vorgestellt. Doch was ist so neu daran? Und was war an den alten Ausgaben veraltet? Und was (und wer) stand einmal hinter dem ursprünglichen Konzept?
K für Köchel oder: Wer alles begann
Die Geschichte des Köchel-Verzeichnisses begann mit … Köchel. Genauer gesagt, mit Ludwig Alois Friedrich Ritter von Köchel (1800-77), dem Wikipedia-Eintrag zufolge einem „österreichischen Juristen, Historiker und Naturforscher“. Tatsächlich absolvierte der in Krems an der Donau Geborene ein Jurastudium an der Wiener Universität, seinen Lebensunterhalt verdiente er sich als Privatlehrer. Seine Schüler liebten und seine Arbeitgeber schätzten ihn, und alle empfahlen ihn weiter. So kam es, dass er nach der Promotion zum Dr. jur. 1827 eine Stelle als Privatlehrer und Erzieher beim Erzherzog Karl antreten konnte. Nach 15 Jahren wurde der Bürgerliche als Ritter von Köchel nobilitiert und schied mit der Aussicht auf eine großzügige lebenslange Pension aus dem Dienst aus. Der noch relativ junge Mann wollte sich allerdings nicht einfach so zur Ruhe setzen und zog nach Salzburg.
Zunächst widmete er sich dort ganz seiner Leidenschaft für die Naturwissenschaften. Seine Forschungen gipfelten in Publikationen unter anderem über die Mineralienvorkommen und die meteorologischen Verhältnisse in Salzburg. Erst im Zuge der großen Feierlichkeiten zum hundertsten Geburtstag Wolfgang Amadeus Mozarts im Jahr 1856 wandte er sich der Musik zu. In den ersten Jahren galt sein Interesse ausschließlich Mozart, später auch allgemein der österreichischen Musikgeschichte. Bis zu seinem Lebensende gelang es Köchel, drei umfassende Monografien zu veröffentlichen, darunter die erste vollständige Biografie des einstigen Wiener Hofkapellmeisters Johann Joseph Fux. Vor allem aber ist er uns als der Vater des Köchel-Verzeichnisses in Erinnerung geblieben.
Ordnung aus dem Chaos
Das Mozart-Jahr 1856 war nicht nur weltweit Anlass für eine Reihe von Festivitäten. 1856 erschien im Leipziger Verlag Breitkopf & Härtel mit „W. A. Mozart“ von Otto Jahn auch die erste umfassende Mozart-Biografie, die dessen Leben und Werk systematisch und chronologisch untersuchte. Ein Exemplar fiel Köchel in die Hände – und wurde zum Auslöser für den ersten Entwurf seines eigenen Mozart-Werkverzeichnisses. „Eben das Erscheinen eines so umfang- und gehaltreichen Werkes“, so formulierte es Köchel im Vorwort, „mußte den Wunsch nach einem Apparate rege machen, dasselbe mit Bequemlichkeit zu lesen“, einem Verzeichnis also, das „die in der Biographie besprochenen Kompositionen nach ihren Teilen, ihrem Umfange, und ihrer Zeitfolge thematisch dem Auge vorführt“. Im Laufe seiner Arbeit entwickelte er diese Idee zu einem vollständigen Konzept, das im Wesentlichen auf zwei Prinzipien beruht: Authentizität oder Echtheit und Vollständigkeit. Es durften also nur Werke Mozarts im Verzeichnis aufgenommen werden, die erstens zweifelsfrei von Mozart stammen und zweitens von ihm auch vollendet wurden.
Unter weitgehender Berücksichtigung dieser Kriterien nahm Köchel genau 626 Werke in sein Verzeichnis auf und ordnete sie nach der jeweils angenommenen Entstehungszeit. Die Liste fing an mit dem kleinen Zyklus Menuett und Trio für Klavier aus dem Jahr 1761; das berühmte Requiem von 1791 markierte den Endpunkt.
Aber warum fand das Requiem den Weg in Köchels Verzeichnis, ebenso die c-Moll-Messe und die Opernfragmente? Da er selbst dazu keine Erklärung hinterlassen hat, wird vermutet, dass er diese Werke als „vollendet“ betrachtete. Unvollendet waren für ihn Werke, die keine vollständig überlieferten Teile enthielten, die überhaupt nicht aufführbar waren und die wir heute eher als „Entwürfe“ oder gar „Skizzen“ bezeichnen würden. Da sowohl das Requiem als auch seine „Schwester“ jedoch über abgeschlossene Teile verfügen und erfolgreich (wenn auch nur teilweise!) aufgeführt werden können, waren sie für ihn „vollendet“ und verdienten ihren Platz in seinem Verzeichnis.
Verloren gegangene Kompositionen, unvollständig überlieferte Werke, Übertragungen und zweifelhafte Kompositionen vermerkte Köchel in einem Anhang. Soweit möglich, versah er die Einträge außerdem mit Incipits (das heißt mit den Anfangstakten des ersten charakteristischen Themas), mit allgemeinen Angaben zu Entstehungsjahr, Autograph und relevanten Druckausgaben sowie mit Literaturhinweisen. In ebendieser Form ließ er sein Verzeichnis 1862 bei Breitkopf & Härtel unter dem Titel „Chronologisch-thematisches Verzeichniss sämmtlicher Tonwerke Wolfgang Amade Mozart’s“ (ohne Akzent!) drucken.
Chaos aus der Ordnung
Doch schon vor der „Geburt“ seines „Kindes“ ahnte Köchel, dass die spezielle Konzeption auch Probleme bereiten würde. Bisweilen tauchten nämlich neue, noch unbekannte Werke Mozarts auf; oder es stellte sich heraus, dass manche Kompositionen im Grunde doch unvollständig überliefert waren und erst nach Mozarts Tod vervollständigt worden waren. Auch offenbarte sich bei einigen Werken eine komplizierte, langwierige Entstehungsgeschichte und so weiter und so fort.
Zum Beispiel stieß Köchel unerwartet auf Zwei kleine Praeludien für Klavier (oder Orgel), ein bis dahin unregistriertes Werk Mozarts, das aber den Verzeichniskriterien voll entsprach. Das Stück stammte mit Sicherheit von Mozart und war von ihm fertig komponiert. Die an der Chronologie orientierte Nummernlogik machte es jedoch unmöglich, neu entdeckte Werke in die Liste einzufügen, da die Nummern ja alle schon vergeben waren. So fügte Köchel im Falle der Zwei kleinen Praeludien der Nummer 154 ein „a“ hinzu und setzte den neuen Eintrag an den Schluss des Verzeichnisses. Dass er damit ein Muster für künftige Ergänzungen auch nach seinem Tod vorgeben würde, hat Köchel sicherlich nicht erwartet.
Ganze drei Mal wurde Köchels Verzeichnis im 20. Jahrhundert – auf Veranlassung des Verlags Breitkopf & Härtel – gründlich überarbeitet. Zum ersten Mal geschah das 1905, als der Bearbeiter Paul Graf von Waldersee zehn Einträge aus Köchels chronologischem Verzeichnis entfernte, weil sie entweder doppelt genannt waren oder inzwischen als Fehleintragungen galten, und dafür elf neue Werke im Anhang hinzufügte, die nach verbessertem Erkenntnisstand und Datenlage aus Mozarts Feder stammten. Wirklich kritische Auswirkungen auf den Zustand des Verzeichnisses hatte das aber nicht.
Im Jahr 1937 wurde das Werkverzeichnis erneut angepasst, diesmal von Alfred Einstein. Einige Datierungen von Mozarts Kompositionen hatten sich als falsch, spekulativ oder zumindest fragwürdig erwiesen. Und deshalb verbannte er einige Werke in den Anhang, verschob Werke innerhalb des Anhangs und holte anderes, das er für authentisch hielt, aus dem Anhang in den Hauptteil. Das hatte zur Folge, dass sowohl im chronologisch geordneten Hauptteil als auch in der Anhangsabteilung zahlreiche neue Nummern mit zusätzlichen Buchstaben eingefügt wurden. Dies trug zwar zu größerer Verwirrung bei, war aber (immer noch) nicht kritisch.
Der „Zusammenbruch“ des Systems kam schließlich 1964. Mit den besten Absichten und in gutem Glauben unterzogen die Herausgeber des Verlags Breitkopf & Härtel die Chronologie des Mozart’schen Oeuvres einer fundamentalen Revision und verloren dabei … den Aspekt der Nachvollziehbarkeit komplett aus den Augen! Einige Werke wurden nun alternativ (entsprechend den neu angesetzten Entstehungsdaten) nummeriert, dies aber unter Beibehaltung der Nummern aus früheren Ausgaben des Verzeichnisses. Andere wurden nicht nur mit einer Doppelnummer, sondern zusätzlich noch mit Hilfsbuchstaben oder einer Kombination aus Groß- und Kleinbuchstaben versehen. Zwei Beispiele: Die populäre Klaviersonate A-Dur mit dem Rondo „alla turca“ erhielt jetzt die komplexe KV-Nummer 300i = 331 (vormals „bloß“ KV 331), während die „kleine Schwester“ der berühmten „romantischen“ g-Moll-Sinfonie nun unter der KV-Nummer 173dB = 183 geführt wurde (vorher KV 183).
Auf diese Weise wurde das Verzeichnis zwar auf den neuesten Stand der Forschung gebracht, war aber als chronologisches Verzeichnis sämtlicher Tonwerke Mozarts praktisch nicht mehr zu gebrauchen. Und die von Köchel ursprünglich geschaffene Ordnung hatte sich in ein Chaos verwandelt.
Ende oder Neubeginn?
Bis zum nächsten Versuch einer Revision des Köchel-Verzeichnisses sollte gut ein halbes Jahrhundert verstreichen – Zeit genug, um zu erkennen und zu akzeptieren, dass einige der Prinzipien, die bislang hochgehalten wurden und sich bis zu einem gewissen Grad bewährt haben, nicht mehr funktionieren.
Das verantwortliche Team der Internationalen Stiftung Mozarteum unter der Leitung von Ulrich Leisinger begann in Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Musikwissenschaftler Neal Zaslaw seine Arbeit genau mit dieser Einsicht. Man gestand sich offen ein: Mozarts Oeuvre lässt sich nicht chronologisch systematisieren. Die erstmals unmittelbar unter dem Namen „Köchel-Verzeichnis“ bei Breitkopf & Härtel erschienene Edition von 2024 setzt wieder bei der ursprünglichen (nach wie vor vertrauten und inzwischen lückenhaften) Nummernverteilung an, verabschiedet sich also insbesondere vom Anspruch einer chronologisch korrekten Sortierung. Folglich verschwindet auch der Hinweis darauf vom Titelblatt. Dort heißt es nun: „Thematisches Verzeichnis der musikalischen Werke Wolfgang Amadé Mozarts“.
Zugleich werden 95 Kompositionen, die in keiner der vorherigen Ausgaben des Köchel-Verzeichnisses einen eigenständigen Eintrag (mit eigener KV-Nummer) erhalten hatten, ab der Nummer 627 frei einsortiert. Diese offene Form scheint zu verkünden: Das Verzeichnis und überhaupt die Welt sind bereit für beliebig viele neue Entdeckungen Mozart’scher Werke. Mozart kann weiterleben! Und das tut er selbstverständlich auch!