
Die Frage ist faszinierend, genau zu beantworten ist sie oft nicht. Wie findet ein Kind zu seinem Instrument? Genau zu dem einen, das zur Profession werden könnte? „Mit dreieinhalb oder vier Jahren kann man nicht sagen, ob es der Einfluss meiner Eltern oder die eigene Entscheidung war“, meint Anastasia Kobekina. Wie bei vielen hochbegabten Kindern waren auch bei ihr die frühen Lebensjahre maßgeblich und sehr prägend von Musik bestimmt. „Meine Eltern sind beide Pianisten und haben sehr viel gespielt zu Hause. Musik war ein ganz natürlicher Teil des Alltags. Mein Vater ist Komponist und hat den ganzen Tag neue Melodien gesucht. Ich habe immer zugehört und wollte auch Teil davon sein. Später habe ich dann Interesse gezeigt, Cello zu spielen.“
Das Ausbildungssystem in Russland ist bekannt für seine Strenge und Effektivität. Wer es durchlaufen hat, ist gewappnet für die Anforderungen eines Lebens als Profimusiker. Schon früh war klar, Anastasia Kobekina würde das Zeug dazu haben. Bald ging es recht professionell zu im Elternhaus in Jekaterinburg, der Industrie- und Universitätsstadt am Ural. „Dort kam ich zu meiner ersten Lehrerin an die Zentrale Musikschule. Ich hatte sehr viel Energie, und es war für meine Eltern schwierig, mich zur Ruhe zu bringen. Ich konnte einfach nicht ruhig dasitzen. Sie haben Hauskonzerte veranstaltet und mich beim Cellospielen gefilmt, wie eine weltberühmte Cellistin. Ich durfte mich auch entsprechend kleiden. Vater hat am Klavier gespielt, und Mutter hat gefilmt. Dank dieser Aufnahmen kann ich mir genauer vorstellen, wie meine Kindheit war. Ansonsten sind meine Erinnerungen sehr gemischt“, erzählt sie lebhaft über Erlebnisse, die gern als „Wunderkind“-Geschichten gehört werden.
Doch sah damals wirklich alles so rosig aus, wie es in der Rückschau gern verklärt wird? Gerade die Ausbildung in Russland oder China steht unter dem Verdacht, gnadenlos zu sein in den Anforderungen an Kinder, die schon im Vorschulalter erstaunliche Dinge auf ihrem Instrument vollbringen. Anastasia Kobekina relativiert es so: „Am Anfang war es nicht Leistungsdruck, sondern ein Tausch gegen Aufmerksamkeit und Zuwendung, die man dann von den Erwachsenen bekommt. So unterscheidet man sich von anderen Kindern. Am Anfang war das der Stimulus. Es fiel mir relativ leicht, nicht so schwierige Stücke mit wenig Anstrengung gut zu bewältigen. Dann, so etwa mit neun, wo es etwas komplizierter wird, habe ich gemerkt: Ja, jetzt musst du mehr investieren, um mehr zu bekommen. Bald hat es einen größeren Teil meiner Zeit am Tag beansprucht. Da war es nicht mehr nur ein Spiel.“
Aus früher Begeisterung wurde allmählich professioneller Ernst. Auch Vorbilder spielten dabei eine Rolle, etwa die Cellistin Natalia Gutman. „Sie war eine Figur, die mich als Kind inspiriert hat. Bei ihr hatte ich mit fünf meine erste Meisterklasse. Und ich habe sie im Konzert erlebt.“ Natürlich war Anastasia Kobekina auch von Mstislaw Rostropowitsch tief beeindruckt. „Ich habe sogar noch ein Foto mit ihm. Da war ich neun. Als ich zum ersten Mal in Moskau war, gab er gerade einen zweiwöchigen Meisterkurs am Konservatorium, den ich miterlebt habe. Selbst wenn man ihn nicht kannte oder gar kein Musiker war, konnte man spüren, was für eine Figur er war. Wie er den Raum gefüllt hat mit seiner Persönlichkeit und seiner Präsenz, mit seiner Aura als Künstler.“
Mit zwölf Jahren wechselte Anastasia Kobekina an die Zentrale Musikschule am staatlichen Tschaikowsky-Konservatorium Moskau, ein Musikgymnasium, das Pflichtfächer der allgemeinen Schulbildung mit einer konzentrierten Musikausbildung verbindet. Es ist eine selbstständige Institution, aber auch die Professoren des Moskauer Konservatoriums unterrichten dort und garantieren höchstes Niveau. Am Moskauer Konservatorium selbst hat Anastasia Kobekina nicht mehr studiert, denn mit 18 kam sie nach Deutschland – an die Kronberg Academy, eine der international führenden Ausbildungsstätten für junge Streicher. Dort war Frans Helmerson ihr Lehrer. Auch Musiker wie András Schiff oder Christoph Eschenbach geben dort Meisterkurse. Es ist dieser größere Blick auf die Musik, weit über das Cellospezifische hinaus, der diese Institution besonders auszeichnet.
Weitere Studien führten Anastasia Kobekina an die Universität der Künste nach Berlin zu Jens Peter Maintz und nach Paris zu Jérôme Pernoo. „Für mich war das eine Vertiefung bestimmter Schulen. Jens Peter Maintz hat bei David Geringas studiert, der wiederum Rostropowitsch-Schüler war. Die drei Jahre in Paris waren auch eine kulturelle Bereicherung. Man entwickelt eine andere Sensibilität für die französische Musik. Und lernt die Sprache.“
Einer bestimmten Schule zugehörig fühlt sich Anastasia Kobekina nicht. „Ich bin so eine Mischung, es gibt nicht mehr diese Schulen“, meint sie. Das Profil der jungen Cellistin passt tatsächlich in kein Schema. Künstlerische Neugier treibt sie an, es geht ihr darum, den Horizont zu weiten. „Ich spüre mein Interesse an anderen Instrumenten, etwa der Viola da gamba, der Arpeggione oder dem Barockcello. Ich versuche zu experimentieren und fühle mich nicht nur einem Instrument verbunden. Ich möchte die Palette gern etwas breiter haben, ich liebe die Vielfalt, die Variation. Gerade habe ich ein E-Cello gekauft und experimentiere damit. Die Möglichkeit, unterschiedliche Klänge zu erzeugen, zieht mich sehr an. Da bin ich etwas weg vom authentischen Celloklang und fühle mich freier, es fühlt sich an wie ein anderes Instrument. Vielleicht wird ja mal ein Projekt daraus. Es ist schön, dass es immer mehr elektronische Konzerte gibt, das bringt viel Leben in unseren Bereich. Und auch viel neues Publikum. Überhaupt kann ich mir nicht vorstellen, mein ganzes Leben nur zehn Cellokonzerte mit Orchester und 15 Sonaten zu spielen. Ich verliere die Motivation, wenn ich mich nur auf ein bestimmtes Repertoire begrenze. Da fände ich es schwer, mich als Künstlerin zu bezeichnen.“
Gerade ist Anastasia Kobekina dabei, die Welt des Barockcellos zu entdecken. In Frankfurt studiert sie derzeit bei Kristin von der Goltz, einer Koryphäe auf diesem Instrument. „Ich habe sie im Konzert gehört. Ihre Persönlichkeit, ihre Freiheit beim Musikmachen haben mich sehr inspiriert. Dazu kam, dass ich mich mit Bach nicht immer wohlgefühlt habe, mit den sechs Suiten, unserem Ein und Alles. Ich dachte, das ist der richtige Weg, und es ist tatsächlich so gewesen. Ich bedauere nur, so spät zum Barockcello gekommen zu sein. Es ist eine extreme Bereicherung nicht nur für die Barockmusik. Nein, für alle Musik.“
Auch in ihrer Debüt-Aufnahme bei Sony, dem Konzeptalbum „Venice“, setzt Kobekina in verschiedenen Werken auf den spezifischen Klang eines Barockcellos. Überhaupt ist die gesamte Dramaturgie der CD von Experimentierfreude geprägt. „Ich war einige Tage in Venedig, kurz nach der Coronazeit, und sehr berührt von der Stadt und ihren unterschiedlichen Aspekten. Ich habe dieses Venedig sehr lebendig erlebt, aber nicht so überfüllt und touristisch. Ich war noch nie derart berührt von einer Stadt. Die Welt dahinter, die Geschichte. Ein großartiger Eindruck, absolut faszinierend! Ich wollte mich aber nicht einseitig auf Barockrepertoire begrenzen. Es gibt schon genug Venedig auf Postkarten. Dass ich hier Barockcello und modernes Cello mische, manchmal in einem Stück, ist auch ein Versuch, aus diesem Rahmen auszubrechen. Viele Ideen kamen von meinem Produzenten Jack Smith. Das Konzept ist aus vielen Gesprächen entstanden. Es sind Stücke auf der CD, die man nicht unmittelbar mit Venedig verbindet, aber dann gibt es doch einen Grund warum sie Teil des Albums sind.“
Wie alle jungen Musiker nutzt auch Anastasia Kobekina die Chance, sich in den sozialen Medien zu profilieren. Und tut dies sehr bewusst. „Mein Weg ist: besser nutzen als nicht nutzen. Weil es starke positive Seiten gibt – über eine Plattform mit Menschen zu kommunizieren und eine kleine Brücke zu bauen für alle, die vielleicht noch nie in einem klassischen Konzert waren, doch einmal in den Saal zu kommen. Durch die sozialen Medien hat man vielleicht das Gefühl, einen Künstler schon etwas zu kennen, und geht dann mit einem anderen Gefühl in ein Konzert. Diese menschlichen Verbindungen schätze ich, es gibt sie wirklich. Man kann natürlich auch negative Reaktionen oder sogar Hassbotschaften bekommen. Zum Glück habe ich das noch nicht erlebt. Man lädt ein Video von einer Minute hoch, und Tausende schauen es an. Dieses Publikum werde ich nie im Konzertsaal haben.“
Nur über ihr Privatleben wird Anastasia Kobekina nie etwas posten. „Ich bin ja nicht nur Cellistin, sondern auch ein bisschen Mensch“, sagt sie. Und sie wird nachdenklich bei der Frage, was denn ihr eigentliches Motiv, ihr Selbstverständnis als Musikerin ist. An dieser Stelle steht unser Gespräch einen Moment lang still. „Ich denke oft, dass es eine Flucht aus dem grauen Alltag, aus der Normalität ist. Und hoffentlich ist das auch für mein Publikum so“, fährt sie schließlich fort. „Es hat einen großen rationalen Anteil, es hat aber auch viel mit Gefühlen zu tun. Auf der Bühne möchte ich mich frei fühlen und so offen, wie wenn ich über ganz persönliche Dinge spreche, ohne besondere Anspannung. Ich versuche jedes Mal, so mutig offen zu sein, dass es das Publikum bis ins Kleinste nachfühlen kann. Es ist, wie wenn man eine Geschichte erzählt. Über etwas, das man selbst erlebt und spürt. Man weiß natürlich nie, wie es ankommt beim einzelnen. Jeder Mensch ist anders. Die Präsenz des Publikums ist so wichtig, mit welcher Intensität es zuhört. Egal wie viele es sind. Das verändert einfach so viel.“
Anastasia Kobekina glaubt, dass von Musik eine Kraft ausgeht, auch wenn die nicht genau zu fassen ist. Da bleibt ein Rest des nicht Verstehens, ein Geheimnis, vielleicht auch eine Art Magie. „Wenn dann Leute kommen nach dem Konzert, lachend oder weinend – da weiß ich nicht, welcher Teil von mir das bewirkt hat. Einen großen Anteil hat sicher die Musik. Ich merke auch, dass ich sehr unterschiedlich in Konzerten reagiere. Es hängt sehr davon ab, wie ich mich selbst fühle, ob ich mehr oder weniger bewegt bin. Sicher kann Musik mehr sagen als Worte.“