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Interview
„Seine Partituren sind wie Gemälde“
Cristian Măcelaru hat mit dem Orchestre National de France alle drei Sinfonien von George Enescu aufgenommen
Von
Arnt Cobbers
Christophe Abramowitz

George Enescu ist im internationalen Konzertleben und auf Tonträgern immer noch sträflich unterrepräsentiert. Cristian Măcelaru möchte das ändern – und er ist für diese Aufgabe in der Tat  prädestiniert. Der Rumäne, Jahrgang 1980, ist wie Enescu studierter Geiger und komponiert, allerdings nur nebenbei. Vor allem aber ist er ein gefragter Dirigent. Seit 2019 und noch bis 2025 leitet er das WDR Sinfonieorchester, seit 2021 auch das Orchestre National de France. Und seit 2023 ist er auch Künstlerischer Leiter des George Enescu Festivals in Bukarest. Wir trafen uns zum Interview in einer Hotellobby in Dresden, wo er an jenem Märzabend die Dresdner Philharmoniker dirigierte.

Herr Măcelaru, Sie schreiben im Booklet, George Enescu sei Ihr persönlicher Held. Warum?

Enescu war unzweifelhaft eines der größten Talente des 20. Jahrhunderts, ein phänomenaler Komponist mit einer sehr klaren Arbeitsethik. Aber mein Held ist er vor allem wegen seiner Persönlichkeit. Er war sehr zugewandt, er gab sehr viel als Lehrer und Mentor, und es gibt so viele Geschichten darüber, was für ein großartiger Mensch er war. Seine Musik mochte ich schon immer, aber je mehr ich über seine Persönlichkeit erfahren habe, desto mehr wurde mir klar, wie einzigartig er war. Er blieb immer auf dem Boden, war großzügig, leider starb er in großer Armut. Es ist mir ein großes Anliegen, sein Erbe zu pflegen.

Was war er für ein Komponist?

Für mich ist Enescu der faszinierendste Komponist überhaupt! Man kennt vor allem die beiden Rhapsodien, die er als Teenager geschrieben hat. Die erste ist überbekannt, die zweite auch wunderschön. Aber er hat mit jeder neuen Komposition seinen Stil entwickelt – und ist dabei durch enorm viele verschiedene Stile gegangen. Der Weg, den er von den Rhapsodien bis zu seinem letzten Werk, das streng seriell und sehr mathematisch konstruiert ist, zurückgelegt hat, ist ganz erstaunlich. Er hat neoklassizistische Werke geschrieben, bevor der Neoklassizismus populär war. Er hat neoromantische Musik geschrieben noch vor Mahler, er schrieb im deutschen Stil, stark beeinflusst von Wagner und Strauss, war aber in der Instrumentierung eher französisch orientiert. Er war ja zunächst auf der Hochschule in Wien, dann in Paris. Er hat alles aufgesogen, was er da gelernt hat, und zu etwas ganz Eigenem verarbeitet. Das finde ich faszinierend. Und wenn man die reifen Werke anschaut, die Oper „Oedipe“ oder die Sinfonien, dann findet man da eine Komplexität wie bei keinem anderen Komponisten. Vergleicht man seine Partituren mit denen von Mahler, denkt man, da seien zwei Sinfonien übereinander in Enescus Partitur, so komplex ist das. Die zweite Sinfonie beginnt er mit einem kurzen Motiv, und die ganze Stunde, die die Sinfonie dauert, arbeitet er nur mit drei oder vier kurzen Motiven, die auf alle nur möglichen Weisen verarbeitet, verlängert, verkürzt, umgekehrt werden, die als Melodien oder als rhythmische Gesten auftauchen. Es gibt keine einzige Note, die nicht ganz bewusst gesetzt ist und ihren Sinn hat. Und um das deutlich zu machen, hat er begonnen, wirklich alles zu notieren. Wenn Sie in die dritte Sinfonie schauen, dann ist jede Note, ich übertreibe nicht, wirklich jede Note mit einem Zusatzzeichen versehen, manche Noten haben drei oder vier Zeichen. Akzente, dynamische Angaben, dolce, nicht zu viel usw. Seine Partituren wirken wie Gemälde, das ist überwältigend.

Mögen Sie das denn als Dirigent?

Ja! Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, warum er das macht. Nicht, weil er den Dirigenten einengen möchte. Nein, er möchte ihm seinen musikalischen Stil nahebringen, indem er ihn zwingt, sich Zeit zu nehmen, um wirklich in das Werk einzutauchen. Das liebe ich. Ich liebe es, wenn ich keine Fragen mehr habe über die Absicht des Komponisten. Wenn man Richard Strauss’ Musik anschaut: Die ist fast so komplex wie die von Enescu, aber was die Zusatzzeichen angeht, notiert Strauss fast nichts. An vielen Stellen muss man Entscheidungen treffen, während bei Enescu alles da ist. Es schafft so viel mehr Klarheit für mich als Dirigent beim Versuch zu verstehen, was ihm wichtig ist, was der Charakter der Musik ist, die ich dem Orchester vermitteln muss.

Aber es gibt immer noch Freiheit zu interpretieren?

Natürlich, eine Menge. Er sagt zum Beispiel nichts über das Tempo. Er sagt nur: hier nicht zu schnell, hier leggiero, und er hat einen Begriff eingeführt, den ich wunderbar finde: parlando rubato. Man soll also spielen, als sei es gesprochene Sprache. Wenn man seine Aufnahmen hört, weiß man sofort, was er meinte: ein bisschen portato, ein bisschen legato. Bei ihm ist es immer etwas von verschiedenen Dingen, die zusammenkommen müssen.

Viele Musiker sagen, Sie würden gern die alten Komponisten fragen, wie sie was gemeint haben. Bei Enescu haben Sie das Gefühl, Sie wissen genau, was er wollte?

Sehr genau. Ich verstehe die Entscheidungen, die er getroffen hat. Denn ich weiß, wo seine Musik herkommt, was sie repräsentiert: Die Wurzeln liegen in der rumänischen Volksmusik, in all seinen Werken gibt es folkloristische Elemente. Nicht unbedingt als Zitat, aber als ein Gefühl. Wenn man das einmal verstanden hat, dann wird alles klar und verständlich. Ich würde ihn sehr gerne treffen, aber wegen seiner Persönlichkeit. Nicht um ihn nach seiner Musik zu fragen. Er war sehr darauf bedacht, dass die Werke, die er fertiggestellt hat – und viele seiner Werke sind unvollendet geblieben –, wirklich durchgearbeitet sind, das sind absolute Meisterwerke.

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