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Porträt
Sie war die Göttliche
Ihre Drei-Oktaven-Stimme machte Sarah Vaughan zur bedeutendsten Sängerin der Jazzgeschichte. Dass sie auch eine brillante Pianistin war, ist hundert Jahre nach ihrer Geburt dagegen fast vergessen. Eine Würdigung
Von
Sven Thielmann
Sven Thielmann

Der Dreiklang Kirche-Klavier-Karriere ziert viele Musiker-Biographien, so auch die der am 27. März 1924 in Newark, New Jersey geborenen Sarah Lois Vaughan. Wie sie sich erinnerte, begann ihr Leben mit einer unsagbaren Abneigung dagegen, dunkelhäutig und unattraktiv zu sein. Entsprechend schwach ausgeprägt war ihr Selbstbewusstsein. Was sich erst 1946 – da war sie schon eine gefeierte Sängerin – besserte, als ihr erster Ehemann und Manager George Treadwell 8.000 Dollar in ihre Zukunft investierte – von neuer Nase und Zahnkorrektur über Artikula­tionstraining und Schönheitssalon bis zu ansehnlicher Garderobe das volle Programm. Das Ergebnis war sozusagen vollendet veredelte Spitzenqualität.

„Alles, was George jemals für mich getan hat“, behauptete sie 1961, „war in Wirklichkeit für ihn selbst.“ Denn George hatte reichlich abgesahnt, was freilich sein Nachfolger Clyde „C.B.“ Atkins noch übertraf, der in der kurzen Ehe von 1959 bis 1963 ihr gesamtes Vermögen verzockte. Mit Männern hatte die schüchterne Sängerin zeitlebens kein Glück – als Star fühlte sie sich nie, und divenhafte Allüren blieben ihr fremd.

Ob sie ihren Spitznamen „Sassy“ ihrer schicken Erscheinung oder aber ihrem nur im privaten Kreis durchaus kessen Mundwerk verdankte, darüber gehen die Meinungen auseinander. Das Publikum nannte sie jedenfalls bald „The Divine One“, die göttliche Sarah Vaughan. Wobei manche übersahen, dass sie im Gegensatz zu ihrer Antipodin Billie Holliday alles andere als ein „natural singer“ war – mit Klavierunterricht ab sieben und exzellenter Stimmschulung in einem Kirchenchor. Eine fundierte Ausbildung erhielt sie auch an der Newark’s Arts High School. „Während ich in der Schulband Klavier spielte“, sagte sie 1961 in einem Downbeat-Interview, „lernte ich, Musik auseinanderzunehmen, die Noten zu analysieren und sie wieder zusammenzusetzen. Auf diese Weise habe ich gelernt, anders zu singen als die anderen Sängerinnen und Sänger.“

Bereits mit 19 Jahren – da hatte sie Earl „Fatha“ Hines gerade als Pianistin für seine Bigband angeheuert – muss Sarah Vaughan stimmlich eine Ausnahmeerscheinung gewesen sein, wenn man dem Journalisten und Produzenten Leonard Feather glaubt: „An einem schwülen Sommerabend des Jahres 1943 begann Hines ein einwöchiges Engagement im Apollo. Der Vorhang ging auf, und zu meinem Erstaunen sah ich zwei Flügel mitten auf der Bühne. An einem saß Fatha Hines, an dem anderen die neunzehnjährige, verschüchterte und ungeschickt gekleidete Sarah. Im Laufe der Vorstellung trat sie an das Mikrophon und sang – ,Body And Soul‘, wie ich es noch nie gehört hatte, mit chromatischen Fortschreitungen in verminderten Septimenakkorden und einem lyrischen Ton, der etwas völlig Neues im Jazz war.“

Kein Wunder, dass Sarah Vaughan rasch zur Sängerin der Hines-Band avancierte, die sie Anfang 1944 zugunsten von Billy Eckstines neuer Bigband verließ – mit Musikern wie Charlie Parker, Dizzy Gillespie, Art Blakey und Miles Davis war sie die Keimzelle des aufkommenden Bebop. „Sarah sang, wie Bird und Diz spielten, und die beiden bliesen wie der Teufel! Für sie war Sarah das dritte Horn“, so Miles voller Begeisterung. Doch schon 1945 begann Sarah Vaughan ihre Solo-Karriere in den einschlägigen Clubs von New York. Die ging dann mit Aufnahmen für das Label Musicraft zügig durch die Decke – samt Chart-Hits wie „Tenderly“ oder „Nature Boy“.

Der Erfolg blieb ihr nach dem Wechsel zu Columbia treu, wo sie im Sommer 1949 mit „Black Coffee“ den nächsten Knüller landete. Es folgten zahllose, oft kommerzielle Aufnahmen, ab 1954 bei Mercury, wo sie im Dezember des Jahres mit „Sarah Vaughan with Clifford Brown“ das vielleicht künstlerisch bedeutendste Album ihrer Laufbahn vorlegte. Ihr kommerzieller Erfolg erreichte 1959 seinen Höhepunkt mit dem Song „Broken Hearted Melody“, der mehr als eine Million Dollar einspielte und für den sie ihre erste Goldene Schallplatte erhielt. Die 1960er Jahre verliefen durchwachsen. Der Jazz verlor zunehmend an Popularität, weshalb sich Sarah Vaughan mit Pop- und Unterhaltungsmusik über Wasser hielt und nur noch bei großen, meist europäischen Festivals als Jazzsängerin in Erscheinung trat.

Was Sarah Vaughan ausmachte, lässt sich gut in zwei Konzertmitschnitten aus dem Jahr 1969 auf Youtube sehen. Der eine mit ihr, der andere mit Ella Fitzgerald – beide beim Publikum äußerst beliebt und doch in Bühnenpräsenz und Stimmführung ganz unterschiedlich. Betrachten wir zunächst Ella Fitzgerald, die im Juni in Montreux mit prominenten Begleitern wie dem Pianisten Tommy Flanagan und dem Drummer Ed Thigpen einen eindrucksvollen Auftritt hinlegt. Rastlos über die Bühne tigernd mit körperbetonter Show-Attitüde, swingt sie sich vor ihrem Trio mit samtiger Eleganz durch ein Repertoire, das neben Standards auch einige Überraschungen bietet. So scattet sie etwa einen Brazil-Song von Tom Jobim, erweist mit „Sunshine of Your Love“ dem englischen Rock-Trio Cream ihre Reverenz, streut eine Rock’n’Roll-Nummer ein und legt dann mit dem Beatles-Hit „Hey Jude“ noch einen drauf. Populärer, man könnte auch sagen: anbiedernder geht’s kaum – wobei ihre geschmeidige Stimme eine mitreißende Emotionalität zeigt, die vor allem von einer gewissen Schludrigkeit der Artikulation und einer angerauten Intonation geprägt ist.

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