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Interview
Songs of Experience
Alice Lackner hat die Lieder von George Antheil wiederentdeckt
Von
Arnt Cobbers
Thomas Lackner

Den amerikanischen Komponisten George Antheil kennt man, wenn überhaupt, als „Bad Boy of Music“, so der Titel seiner Autobiografie, als Enfant terrible der frühen Moderne, der mit Stücken wie dem „Ballet mécanique“ in den 1920ern für Skandale sorgte. Dass der im Jahr 1900 geborene Amerikaner, der in jungen Jahren in Berlin und Paris lebte und später in Hollywood unter anderem ein bahnbrechendes Frequenzsprungverfahren erfand (gemeinsam mit dem Filmstar Hedy Lamarr!), auch Lieder geschrieben hat, erfährt man erst jetzt – dank der Sängerin Alice Lackner und ihrer frisch erschienenen Doppel-CD.

Frau Lackner, wie sind Sie denn auf George Antheil ­gekommen?

Ich habe zu Corona-Zeiten die Autobiografie von Ernst Krenek gelesen, in der auch Antheil erwähnt wird. Den kannte ich überhaupt nicht. Per Google bin ich auf seine zweite Violinsonate gestoßen, die ich sehr cool fand, und dachte mir, vielleicht hat er ja auch Lieder geschrieben. Ich habe dann tatsächlich ein Verzeichnis gefunden, aber keine Noten. Nur von zwei Liedern, sonst nichts. Ich habe Stunden und Tage recherchiert und herausbekommen, dass einige Handschriften beim Verlag Schirmer in New York liegen. Ich habe mir die Scans schicken lassen und hatte dann diesen ganzen Stapel Noten vor mir, von denen aber viele nicht gut lesbar waren. Also habe ich ein Stipendium bei Neustart Kultur beantragt, um die Lieder auf den Computer zu übertragen und sie zu edieren. Und als ich mir sicher war, dass das wirklich gute Musik ist, habe ich dem Redakteur Stefan Lang vom Deutschlandfunk geschrieben, ob das nicht interessant für ihn wäre. Und er schrieb sofort zurück: Frau Lackner, Sie werden es nicht glauben, wir nehmen gerade Antheils Klavierkonzert auf. Die Lieder machen wir auch, sofort! Na ja, ein Jahr hat es dann doch noch gedauert, bis ich alles lesbar gemacht und mit dem Pianisten Philip Mayers einstudiert hatte. Ob eine Note zum Beispiel ein A oder ein As sein soll, kann man bei Antheil nicht so einfach entscheiden wie bei einer Barockoper, wo die Harmonien klar sind. Vor zwei Jahren haben wir die CD aufgenommen, jetzt erscheint sie. Es dauert seine Zeit.

Sie haben 44 Stücke aufgenommen, rund hundert Minuten Musik. Ist das eine Auswahl aus Antheils Liedern?

Ich gehe davon aus, dass das sein gesamtes Liedschaffen für Stimme und Klavier ist. Ich war in Kontakt mit Antheils Neffen, der den Nachlass verwaltet, aber kein Musiker ist, und mit Mauro Piccinini, der in der Schweiz eine große Privatsammlung hat und auch gerade ein Buch über Antheil schreibt. Er ist wahrscheinlich die einzige Person auf der Welt, die sich wirklich mit Antheil auskennt. Er hat mir sehr geholfen. Was wir nicht aufgenommen haben, sind zwei Kinderlieder mit deutschen Texten. Das eine ist für Stimme und zwei Kontrabässe, das andere für Stimme und drei Klarinetten. Alle anderen Lieder mit Klavierbegleitung haben wir ­aufgenommen.

Sind es denn gute Stücke?

Absolut. Wenn man Antheil kritisieren will, könnte man sagen, er macht irgendwie alles und nichts konsequent. Aber ich würde das positiv sehen und sagen: Er probiert sich in allen Stilen aus und ist sehr kreativ. Das macht es für die Interpreten erst mal schwer. Die „Nine Songs of Experience“ zum Beispiel sind klassische spätromantische Lieder, „The Ballade of Jesse James“ oder „Frankie and Johnny“ sind so richtig amerikanische Cowboy-Lieder, andere sind wiederum jazzig angehaucht oder klingen nach Filmmusik. Man braucht jeweils eine ganz andere Herangehensweise. Andererseits kann man einen sehr abwechslungsreichen Liederabend zusammenstellen nur mit seinen Liedern.

Zeigt George Antheil sich in den Liedern auch als „Bad Boy of Music“?

Nein, er ist sehr sanft mit der Stimme umgegangen. Es wird immer gesungen, nie gesprochen, geschrien oder geflüstert, es gibt keine Provokation um der Provokation willen. Wir wissen auch gar nicht, welche der Lieder überhaupt zu seinen Lebzeiten aufgeführt wurden, vielleicht manche bei Hauskonzerten im kleinen Kreis. Mit dem „Ballet mécanique“ wollte er einfach Aufsehen erregen, aber bei den Liedern wollte er sich als Komponist ausprobieren und sich ausdrücken, ohne an die Außenwirkung zu denken. Manche Lieder haben Widmungen, nur ganz wenige sind veröffentlicht worden, etwa die fünf Lieder auf Texte von Adelaide Crapsey, das sind sehr schöne frühe Lieder auf sehr kurze Texte – die er sehr gut ausgewählt hat, finde ich.

Antheil war auch schriftstellerisch tätig, da kann man ja vermuten, dass ihm Lieder auch am Herzen lagen.

Zumindest hat er von seinen allerersten Anfängen als Komponist bis kurz vor seinem Tod Lieder komponiert. Und er stand immer in engem Kontakt zu Dichtern. Deswegen glaube ich schon, dass das Lied für ihn eine Herzensangelegenheit war.

Wieso hat Antheil deutsche Kinderlieder komponiert?

Es ist ein Zyklus von fünf deutschen Volksliedern und dazu noch zwei von seinen drei allerersten Liedern, „Schlafe mein Kindlein“ und „Ach, meines kleines Mädchen“. Er hatte deutsche Vorfahren, aber das hat er immer geleugnet. Als er nach Berlin kam, das war ja kurz nach dem Ersten Weltkrieg, hat er behauptet, er habe polnische Vorfahren. In seinem Buch wiederholt er das. Aber die deutschen Texte der Kinderlieder hat er selbst geschrieben, wenn auch mit Fehlern.

Sie selbst sind ja ähnlich breit aufgestellt, wie George Antheil es war. Sie haben neben der Musik auch Philosophie und Soziologie studiert und arbeiten auch als Soziologin.

Ich habe ein Jahr lang Gesang studiert und dann noch Soziologie und Philosophie dazugenommen, weil ich immer schon gern gelesen und Neues gelernt habe und noch Kapazitäten hatte. Das ging sehr gut zusammen, und deshalb habe ich mich entschieden, noch den Master in Sociology of European Societies an der Freien Universität in Berlin zu machen. Meine Mutter ist Musiklehrerin, meine Eltern haben sich im Chor kennengelernt, Musik war immer um mich herum und ein Lebenstraum für mich. Aber ich war damals auch oft erkältet, und das ist natürlich gefährlich für eine Sängerkarriere. Am Ende des Studiums war ich mir wirklich unsicher, was ich machen sollte, und wollte die Sängerkarriere schon an den Nagel hängen. Aber wie das manchmal im Leben so ist, habe ich genau dann einen Wettbewerb gewonnen und gedacht, dann soll es so sein. Ich arbeite noch als Soziologin am Zentrum für Osteuropa und internationale Studien Berlin (ZOiS), aber das ist ein kleiner Nebenjob.

Und Sie leiten das Festival Güldener Herbst.

Das macht Spaß, ist aber auch unglaublich viel Arbeit. Das Festival gibt es zwar schon seit 25 Jahren in Thüringen, aber erst seit drei, vier Jahren wechselt es jährlich zwischen Meiningen und Gotha hin und her. Und immer wieder stellen bestimmte Leute die Frage, ob man so ein Festival überhaupt braucht, ob das massentauglich genug ist. Da musste ich schon mit einiger Kritik umgehen. Aber es lief glücklicherweise ausgesprochen gut dieses Jahr in Meiningen, und nachdem wir jetzt vieles angeschoben haben und die Konzerte ausverkauft waren, wird es leichter. Ich plane jetzt schon für 2027. Aber die Hauptsache ist für mich eindeutig das Singen.

Da sind Sie ja auch ziemlich wandlungsfähig.

Wenn Sie fragen, ob ich Alt, Sopran oder Mezzosopran bin, muss ich sagen: je nach Repertoire. Beim Festival bin ich mit meinem Trio meZZZovoce aufgetreten, da singe ich die höchste Stimme, da muss ich ganz zart von oben einsteigen. Einen Tag später habe ich bei der Kaffeekantate von Bach den Alt gesungen – bei Bach singe ich immer den Alt – und am Abend im Contis Oratorium „La colpa originale“ unter Leitung von Dorothee Oberlinger wieder den Sopran. Und im Dezember singe ich den Romeo in Bellinis „Capuleti e Montecchi“, das ist eine klare Mezzosopranpartie mit viel Höhe. Das macht mir Spaß, und mir sagt keine Agentur, ich müsse mich festlegen. Das will ich gar nicht. Mir gefällt die Vielfalt – im Leben und in der Musik!

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