
St. Peter in Johann Michael Sattlers Panorama von Salzburg
Als sich der junge Anton Bruckner im Konvent von Sankt Florian über viele Jahre hin das Rüstzeug für seine spätere Komponistenlaufbahn erarbeitete, kam er kontinuierlich in Fernkontakt mit den zwei Generationen vorher gestorbenen Brüdern Haydn. Das freilich auf verschiedene Weise, die ihren unterschiedlichen musikgeschichtlichen Rollen entsprach. War Joseph, der Ältere, in der Klosterbibliothek vor allem mit seinen Streichquartetten präsent, die von entsprechend qualifizierten Augustiner-Chorherren gern als ausgleichende Freizeitbeschäftigung einstudiert wurden, gehörten die Werke des fünf Jahre jüngeren Bruders Michael sozusagen zur musikalischen Alltagskost in den Gottesdiensten und Andachtsübungen: Seine lateinischen wie deutschen Messen, Vespern, Offertorien und weitere geistliche Kompositionen bildeten, noch vor denen Mozarts und des Bruders, auch mehrere Jahrzehnte nach Michaels Tod einen Grundstock der klösterlichen Gebrauchsmusik.
Welcher der Haydn-Brüder damals, um die Mitte des 19. Jahrhunderts, im heutigen Promi-Sinne „berühmter“ war, ist gar nicht leicht zu sagen. Fest steht, dass sie in sehr verschiedener Weise weiterwirkten: Joseph als international weitstrahlender und in vielen Druckausgaben verbreiteter, aber inzwischen als etwas altbacken eingeschätzter Materiallieferant für die feinere intellektuelle Musikpflege im häuslichen wie gesellschaftlichen Rahmen; Michael dagegen als volksnaher Mann der Kantoreien und religiösen Singstunden im gesamten deutschsprachig-katholischen Raum. Dort war er nach wie vor an nahezu jedem Sonntag irgendwo zu hören, und das weniger auf der Basis gedruckter Ausgaben als handschriftlicher, von Kloster zu Kloster oder zwischen den Kirchenmusiker-Generationen weitergereichter Materialien.
Zwischen den beiden Haydns bestanden also grundsätzliche Unterschiede in ihren soziologischen und ab spätestens 1785 auch geografischen Wirkungsräumen, die sie gegenseitig freundlich-achtungsvoll respektierten: Während sich Joseph vom geradezu musikverrückten Esterházy-Hof aus zuerst ideell und dann auch ganz real die großen Metropolen – Wien, Paris, schließlich London – erschloss, blieb der Jüngere als eine Art künstlerischer Nesthocker seit seiner 1763 erfolgten Berufung zum Konzertmeister des Salzburger Hofes (später aufgestockt um die Ernennung zum Domorganisten) bis zum Tod 1806 und damit mehr als vier Jahrzehnte an der Salzach. Das fünfjährige Vorspiel dieser Salzburger Ernennungen in Großwardein, dem heute rumänischen Oradea weitab der kaiserlichen Kernlande, wirkt zwar einigermaßen exotisch – es mag da noch Zeitzeugen gegeben haben, die den letzten türkischen Vorstoß gegen Wien 1683 miterlebt hatten –, war aber sicher weniger einem Drang in ferne Wirkungskreise als der Notwendigkeit geschuldet, überhaupt erst einmal eine halbwegs sichere soziale Verankerung zu finden. Denn wie Joseph hatte sich auch Michael nach dem stimmbruchbedingten Abgang aus dem Wiener Stephanschor zunächst einige Jahre mit notdürftigen Provisorien in Unterrichts- und Aushilfstätigkeiten durchs Leben schlagen müssen; in dieser Frühphase liefen die Biografien der Brüder mit gleichem Geburtsort und Ausbildungsgang zwar zeitversetzt, aber sonst noch ungefähr parallel.
Die schließlich gefundene Verankerung in Salzburg stellte den Mittzwanziger dann in ein ganz neues künstlerisches und soziales Spannungsfeld. Da waren einmal Leopold und Wolfgang Amadé Mozart, Vater und Sohn, der eine knapp zwei Jahrzehnte älter, der andere um nahezu die gleiche Distanz jünger als Michael. Anders aber als in der Physik gab es zu diesen beiden „Elektroden“ eine dritte, und das waren die jeweils amtierenden Fürsterzbischöfe: erst Sigismund Schrattenbach, dann nach dessen Ableben ab 1772 der aus der Mozart-Biografik sattsam bekannte Hieronymus Colloredo.