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Johann Strauss
„Strauss’ Musik ist nicht lustig“
Der Dirigent Johannes Wildner erklärt, warum Strauss den Wienern so wichtig ist und welche Fehler man beim Walzer-Spielen vermeiden muss
Von
Arnt Cobbers
www.lukasbeck.com

Sie müssen mich bremsen, sonst rede ich den ganzen Abend“, sagt Johannes Wildner vorweg. Und am Ende des einstündigen Telefonats – mehr Zeit haben wir nicht – meint er nur: „Ich hoffe, Sie können aus meinen unzusammenhängenden Gedanken etwas Interessantes herausfiltern.“ Die Kunst lag dann aber vielmehr darin, Wildners Rede auf ein heftkompatibles Maß zu kürzen. Der 69-Jährige, der bei Otmar Suitner Dirigieren studiert, in Musikwissenschaft promoviert und 1985-95 im Orchester der Wiener Staatsoper/Wiener Philharmoniker Geige gespielt hat, brennt nicht nur für das Thema Strauss. Er hat auch eine Menge Spannendes zu erzählen. Er begann seine Dirigentenlaufbahn 1984 als Leiter des Johann-Strauß-Ensembles der Wiener Symphoniker und ist seit 2008 einer der beiden Dirigenten des Wiener Johann Strauss Orchesters, das in der Tradition von Johann Strauss’ Kapelle steht. Außerdem war Wildner unter anderem Chefdirigent der Prager Staatsoper und GMD der Neuen Philharmonie Westfalen, Dirigierprofessor in Wien und Intendant des Festivals Oper Burg Gars.

Herr Wildner, Sie dirigieren jedes Jahr am österreichischen Nationalfeiertag, am 26. Oktober, ein Strauss-Programm mit dem Wiener Johann Strauss Orchester im Musikverein. Ist Strauss eine Art Nationalkomponist?

Auf jeden Fall zählt die Musik von Johann Strauss und der Strauss-Familie zu den Kulturgütern, die einen großen Teil der österreichischen Identität ausmachen. Identität ist ja das Zusammenwirken von kulturellen Faktoren und die Identifikation der Bevölkerung mit ihnen. Wir sind ein Sonderfall der Geschichte. Wir sind Deutsch sprechend, haben aber im Laufe der letzten fast 1.200 Jahre eine Identität ausgeprägt, die auch viele andere Sprachen und Kulturen, slawisch, ungarisch, italienisch und so weiter umfasste. Dann kam das Jahr 1806, Kaiser Franz II. legte nach dem Sieg Napoleons die Kaiserkrone nieder, und Wien verlor seine Funktion als De-facto-Hauptstadt des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Daraus resultierte dann eine neue Staatlichkeit: zunächst das Kaisertum Österreich, dann von 1867 bis 1918/20 die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Mit der Niederlage in der Schlacht bei Königgrätz 1866/67 begann der Loslösungsprozess Österreichs aus dem Deutschen Bund, bis Bismarck wenig später Österreich sozusagen aus Deutschland hinauswarf. In dieser Phase begann nun die Suche nach einer österreichischen Identität, und das bedeutete zunächst nach einer kulturellen Identität. Und man fand Grillparzer, Schubert, Brahms, obwohl der ja durch und durch Deutscher war, Bruckner und ganz besonders die Musik der Strauss-Familie.

Schauen wir auf die 1840er Jahre: Da gab es Missernten und als Folge eine große Hungerkrise, dann kam das Revolutionsjahr 1848/49 mit dem Sturz des Kaisers und dem Regierungsantritt des neuen Kaisers Franz Josef. In dieser Zeit bot die Strauss-Musik die einzige Möglichkeit, Kultur zu konsumieren. Von 1849 bis 1854 galt aus politischen Gründen ein Versammlungsverbot, das dazu geführt hat, dass es keine Konzerte mehr in den großen Sälen gab. Der niedergehende Adel hatte seine Kapellen fast alle aufgelöst, und das aufstrebende Bürgertum hatte dessen Praxis des Konzertbetriebs noch nicht übernommen. Das heißt, man hat Musik auf den Plätzen, im Volksgarten, auf der Straße gehört: Und dort hat die Strauss-Kapelle gespielt.

Und nun kommt ein interessanter soziologischer Prozess hinzu: Bis Beethoven, bis Schubert, ja noch bis Strauss Vater und Sohn war die Musik ein Element, das die gesellschaftlichen Geschichten getrennt hat. Es gab Musik des Klerus, Musik der Bauern, der Handwerker, des Adels. Und plötzlich gab es eine Musik, die für alle Bevölkerungsschichten gedacht ist. Das hatte es von Monteverdi bis Schubert nicht gegeben. Das war eine vollkommen neue Erfahrung. Gerd Bacher, der einstige legendäre ORF-Intendant, hat mal gesagt, Franz Schubert war der letzte Komponist, bei dem E- und U-Musik lückenlos ineinander verwoben waren. Genau aus dem heraus ist Strauss gekommen, indem er gesagt hat, wir spielen Musik, die in der Volksmusik verwurzelt ist. Michael Pamer, der Geigenlehrer von Strauss Vater und Lanner, war ja quasi der Erfinder des Walzers.

Die Erfindung des Walzers und der Polka in den 1780er, 1790er Jahren war ein Akt der Demokratisierung. Die Volksmusik kam raus aus den Hinterhöfen in die Gasthäuser und auf die Plätze, sie kam von den Bauern auf dem Land in die Stadt. Mit dieser aus der Volksmusik weiterentwickelten Musik war schon der Vater Strauss populär geworden, aber der Sohn hat dann eben durch die Jahre 1849 bis 1854 diese ungeheure Popularität erreicht. Er hat den Wienern das Lebensmittel Kultur, das Lebensmittel Musik vermittelt in einer Zeit, in der es sonst keinen Zugang dazu gab.

Genau in dieser Zeit fällt jetzt die Frage: Warum dürfen wir als Deutsche nicht im neuen Deutschen Reich mitmachen? Was ist denn bei uns anders? Nur weil unser Reich weit nach Süden und Südosten geht, dürfen wir nicht mitmachen bei der Idee, dass alle Deutschen einen Staat bilden? Die Antwort ist klar: Wir haben uns eingebildet, dass so ein Staat nur unter unserer Führung stattfinden kann, und Bismarck und die Preußen haben das anders gesehen.

Im Endeffekt war Österreich als Vielvölkerstaat ein Auslaufmodell, der deutsche Nationalstaat war kraftvoll – während wir mit der EU heute mühsam versuchen, die Grenzen wieder einzureißen. Und in dieser Zeit der Suche nach einer Identität hat man sich auf die Strauss-Musik gestützt. Die hat die Sehnsucht nach Stabilität, nach Geborgenheit, nach Volkstümlichem befriedigt.

Wie sehen Sie als klassischer Musiker denn die Musik von Johann Strauss? War er ein bedeutender Komponist?

Für uns in Wien ist Strauss ernste Musik, Konzertmusik. Ich bin ja bei den Wiener Philharmonikern sozialisiert worden, ich hab noch die Neujahrskonzerte unter Mehta, Kleiber, Maazel und Abbado gespielt. Wir lehnen diese Abstufungen zwischen Klassik und Volksmusik und Wiener Musik ab. Für uns ist ein Walzer von Johann Strauss genauso wertvoll wie eine Schubert-Sinfonie oder ein Variationswerk von Schönberg. Das ist ein Teil unserer kulturellen Identität, und ich würde sogar Musikwissenschaftlern, die sagen, die eine Musik sei mehr wert als die andere, die Kompetenz absprechen. Oder um es mit Neusprech zu sagen: Das ist kulturelle Aneignung, darüber von außen zu urteilen.

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