Ein Mammutprojekt findet seinen Abschluss: Im Januar ist die 4-CD-Box mit den Folgen 28 bis 31 erschienen, mit den Vol. 32 bis 35 liegen seit September alle 108 Sinfonien Joseph Haydns in der Einspielung der Heidelberger Sinfoniker vor. Seit der ersten Aufnahme 1999 beeindruckt das Freiberufler-Orchester mit Energie, Spielfreude und Rasanz. Und das ist auch so geblieben unter Johannes Klumpp, der 2020 die künstlerische Leitung übernommen hat. Der gebürtige Stuttgarter, der auch Bratsche studiert hat, verfolgt parallel übrigens noch ein zweites großes Projekt: Er nimmt mit dem Folkwang Kammerorchester Essen, das er seit 2013 leitet, sämtliche Sinfonien Wolfgang Amadeus Mozarts auf. Im Gespräch zeigt Johannes Klumpp die gleiche Energie und Begeisterung für die Sache, die man aus seinen Aufnahmen heraushört. Oft singt er Themen oder Rhythmen an, um unmittelbar zu verdeutlichen, was er meint.
Herr Klumpp, warum braucht die Welt eine Einspielung aller Haydn-Sinfonien?
Weil es großartige Musik ist! Und mein Vorgänger Thomas Fey war der Meinung, dass das auf den existierenden Aufnahmen nicht so zu hören war, wie er es gerne gehabt hätte. Die anderen Gesamteinspielungen sind relativ alt, es gibt Antal Dorati, es gibt Dennis Russell Davis mit dem Stuttgarter Kammerorchester, und es gibt Adam Fischer mit der Ungarisch-Österreichischen Haydnphilharmonie. Da war er noch nicht so gut wie bei den Mozart-Einspielungen, die er in Dänemark gemacht hat, die finde ich absolut großartig. Giovanni Antonini nimmt Haydn mit zwei Orchestern und auf alten Instrumenten auf, das ist auch toll. Der Markenkern der Heidelberger Sinfoniker ist es, dieses Repertoire auf modernen Instrumenten zu spielen, aber mit dem historisch informierten Background im Kopf und im Körper. Und damit auch den Beweis anzutreten, dass es nicht den Spezialensembles vorbehalten sein darf, diese Musik zu spielen. Man kann, wenn man wild phrasiert, wenn man scharf artikuliert, wenn man Rasanz reinlegt, einen unglaublich spannenden Haydn machen. Deswegen glaube ich, dass diese Einspielung, die ich das Glück hatte zu übernehmen, unbedingt eine Daseinsberechtigung hat.
Wie sind Sie überhaupt zu diesem Projekt gekommen?
Die Vorgeschichte ist ja, dass Thomas Fey 2014 diesen tragischen Unfall hatte, er hat sich bei einem Sturz schwer verletzt. Irgendwann war klar, er würde das Orchester nicht mehr leiten können. Die Musiker können viele Geschichten erzählen, was für eine Energie von diesem Mann ausging. Er hat das Orchester 1994 gegründet, das war ein eingeschworener Haufen, die haben manchmal um zehn Uhr morgens angefangen zu proben und vor neun Uhr abends nicht aufgehört. Nach dem Unfall haben die Musiker entschieden: Wir wollen weitermachen! Sie haben mit Reinhard Goebel, Frieder Bernius, Giuliano Carmignola gearbeitet, und irgendwie kamen sie auch auf mich. Sie haben mich eingeladen, ich kam hin, und wo man normalerweise mit den Orchestern aufhört zu arbeiten, da fing es erst an. Sie waren supergut vorbereitet und konnten alles – das hat wahnsinnig Spaß gemacht. Kurz darauf hatten wir schon das nächste Projekt, und irgendwann kam es an den Punkt, dass sie sagten: Wir sind ein eigenverantwortliches, demokratisch organisiertes Orchester. Aber es muss kein Widerspruch sein, wieder einen künstlerischen Leiter zu haben. Sie haben mich gefragt, ob ich mir das vorstellen könnte, und ich habe geantwortet: Liebend gern! Es erschien mir als tolle Ergänzung zu dem, was ich in Essen mit dem Folkwang-Kammerorchester mache. Man führt dieses Orchester nicht sehr hierarchisch, es kommt unheimlich viel von den Musikern, man bündelt mehr, auch wenn man natürlich auch mal sagt: Nein, das bitte nicht und dies bitte doch. Es ist eine andere Form des Arbeitens als bei einem tariflich organisierten Orchester. Ich sollte 2020 anfangen. Und dann kam Corona. Die Freiberufler saßen da und sagten: Das Einzige, was wir jetzt machen können, ist aufnehmen. Sie haben ihre langjährigen Sponsoren angeschrieben, und die antworteten zum Glück: Macht das, wir unterstützen euch. So wurde das Haydn-Projekt wieder aufgenommen. Wir haben zwei Aufnahmen in zwei Wochen gemacht, zwei weitere 2021 und dann immer weiter bis Mai 2023 zur letzten Session. Wir haben also innerhalb von drei Jahren alle vierzig Haydn-Sinfonien aufgenommen, die noch fehlten. Mein Vorgänger hatte mit der 104 angefangen und die berühmten zuerst gemacht. Von denen, die noch übrig waren, kannte ich keine einzige. Wir haben entschieden, alle fehlenden Sinfonien chronologisch aufzunehmen – damit man die Entwicklung von Haydns Kompositionsstil nachvollziehen kann. Und ich musste dann feststellen, dass es von den frühen Sinfonien keine neuen Ausgaben gibt. Der Bärenreiter Verlag übersetzt die neue Henle-Gesamtausgabe, die vom Joseph-Haydn-Institut in Köln kommt, in Orchestermaterialien, also die Partitur und die Einzelstimmen. Aber die haben ganz praktisch mit der Sinfonie Nr. 104 angefangen und arbeiten sich nun langsam zurück bis zur Nr. 1. Von den frühen Sinfonien gibt es bis heute nur die Ausgaben von Robbins Landon aus den 60er Jahren, und wenn man das vergleicht und sich in den kritischen Bericht einliest – das ist furchtbar. Da ist wahnsinnig viel Meinung des Herausgebers drin. Ich hab dann das ganze Orchestermaterial neu eingerichtet. Das war viel Arbeit, aber auch nutzbringend. Da stehen einmal zum Beispiel Viererbindungen drin, die überhaupt nicht von Haydn sind. Ohne die klingt es ganz anders. Man kann ja Viererbindungen machen. Aber das muss meine Entscheidung sein, das darf mir nicht das Notenmaterial vorgeben.
Sind das die ersten historisch informierten Aufnahmen der frühen Sinfonien?
Es gibt einige Aufnahmen von Christopher Hogwood. Die kann ich empfehlen, aber es ist doch, finde ich, ein etwas gezähmter Haydn. Da ist ganz viel richtig, aber es ist, wenn ich das so sagen darf, nicht so wild, nicht so sprudelig lebendig, wie es sein sollte. Aber es war auf jeden Fall ein riesiger Fortschritt im Vergleich zu den Aufnahmen der damaligen Zeit: Obwohl es in jedem Buch steht, kannte man anscheinend in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Unterschied zwischen einem Dreiviertel-Takt und einem Dreiachtel-Takt nicht. Ein Dreiachtel-Takt hat einen ganztaktigen Gestus und ist deshalb schneller, aber die Leute dirigieren ihn in drei und es klingt nach einem Dreiviertel-Allegro moderato.