
Emmanuel Pahud ist sicherlich der berühmteste Querflötist der Welt. Geboren in Genf, studierte er u.a. bei Aurèle Nicolet und wurde 1992, mit 22 Jahren, Soloflötist der Berliner Philharmoniker. Das ist er bis heute. Daneben ist er in der ganzen Welt als Solist und Kammermusiker gefragt; seine zahlreichen Aufnahmen (bei EMI/Warner) mit Konzerten und Kammermusik umfassen alle Klassiker seines Instruments von Bach bis in die Gegenwart.
Herr Pahud, können Sie sich noch an Ihre erste neunte Sinfonie erinnern?
Meine erste Neunte muss wohl in Berlin gewesen sein, da war ich Anfang, Mitte 20. Damals haben wir einen Beethoven-Zyklus mit Claudio Abbado gespielt. Ich habe in dieser Zeit das ganze große Repertoire als Spieler entdeckt, auch die Brahms-, Mahler- und Bruckner-Sinfonien. Das war eine ganz besondere Erfahrung, das alles mit der damals neuen Generation von Musikern zu spielen.
Müssen Sie sich heute so ein Werk vorher noch einmal ansehen, wenn es auf dem Programm steht?
Ich schaue mir das immer an, aus Respekt vor allen Mitwirkenden. Auf unserem Niveau muss man schon vorbereitet auf der Bühne erscheinen. Das muss nicht lange sein und auch nicht unbedingt mit dem Instrument, aber man muss sich das anschauen, egal was es für ein Stück ist.
Gibt es in der Sinfonie heikle Stellen für Sie?
Oh ja. Beethovens neunte Sinfonie ist für die gesamten Holzbläser schwierig, es ist alles sehr hoch, und es gibt lange Phrasen, in denen man immer wieder Probleme mit der Atmung bekommen kann. Bei der Flötenstimme besteht außerdem die Gefahr, dass es zu scharf in der Höhe wird und man sich dann nicht gut mischt mit den ersten Violinen und den anderen Holzbläsern.
Ist dieses mystisch aufgeladene Stück für die Musiker etwas Besonderes?
Das ist schon einzigartig, so eine Sinfonie gibt es nicht noch einmal. Nach meiner Erfahrung, je nach Dirigent, Solisten und Chor, kann das unerträglich werden – dann ist man froh, wenn es aufhört – oder ein vitalisierendes Erlebnis sein, eine bewegende Erfahrung. Aber die Sinfonie ist rein physisch so anstrengend zu spielen, dass man selten einfach ins Nirwana kommt.
Wie gehen die Dirigenten an das Werk heran? Stellen sie vorher ihre Ideen vor? Oder fängt man einfach an zu spielen?
Man fängt immer mit der Arbeit an. Etwas vorher zu erklären, wäre zu plakativ. Man muss mit dem arbeiten, was aus der Zusammenarbeit entsteht. Der Dirigent gibt den Einsatz, und wir reagieren darauf. Dabei wird nicht nur auf der Seite des Orchesters geprobt, sondern auch vom Dirigenten: Wie reagiert das Orchester auf welche Bewegung, im Tempo, in der Dynamik, in der Phrasierung. Das muss auf beiden Seiten aufeinander abgestimmt werden.
Sie selbst haben die Neunte mit Claudio Abbado, Simon Rattle und Kirill Petrenko gespielt. Gibt es da große Unterschiede?
Ja, allein was die Tempi betrifft. Aber auch die Ästhetik der Sängerauswahl und die Differenzierung der einzelnen Stimmen. Bei Abbado wurde mehr horizontal gelesen, der Kontrapunkt war wichtig. Bei Rattle waren die Blöcke, die Sektionen des Werks von großer Bedeutung, und die Dynamik war manchmal extrem. Im Scherzo zum Beispiel wurde es so leise, dass man kaum noch gespielt hat. Bei Petrenko merkt man gerade im Fluss des letzten Satzes, wenn die Sänger dazukommen, dass er vom Opernfach kommt, dass er so eine große Erfahrung hat im Umgang mit Orchester, Solisten und Chor.
Als Solist haben Sie jetzt vier Violinsonaten Mozarts für Ihr Instrument transkribiert...
Das war ja damals sehr beliebt, sechs dieser Sonaten sind seinerzeit in Hamburg und Paris auch für Flöte und Klavier erschienen. Man muss aber sagen, es sind eigentlich Sonaten für Klavier mit Begleitung der Violine oder Flöte; meistens werden die Themen zuerst vom Klavier gespielt, dann fängt erst ein Dialog an. Drei dieser Sonaten habe ich übernommen, allerdings in einer Version, die viel näher am Original ist. Die Flöte von heute ist anders als damals und bietet auch andere Möglichkeiten. Dazu habe ich noch eine spätere Sonate aus der Wiener Zeit genommen, das ist wunderbare Musik, die ideal für die Flöte liegt.
Zu Mozart haben Sie eine besondere Verbindung – weil sie am selben Tag Geburtstag haben?
Mozarts Musik hat mich musikalisch erweckt. Als ich gerade vier Jahre alt war, habe ich aus der Nachbarwohnung eine Melodie gehört, die ich angefangen habe mitzusingen, mitzusummen und zu tanzen. Der Nachbar erklärte mir, dass das Mozarts Flötenkonzert sei. Und ich habe ihn gefragt, ob er mir das beibringen könne. So bin ich zur Flöte gekommen, meine Familie war gar nicht musikalisch interessiert. Das war wie eine Offenbarung für mich: als hätte ich diese Melodie schon gekannt. Von Mozart kommt meine Begeisterung für die Musik. Ich denke immer, dass das, was ich gerade spiele, das Beste ist, was je geschrieben wurde.
Sie verwenden beim Spielen eine ungeheure Bandbreite an Farben. Was hat Sie da inspiriert?
Bei Mozart ist immer der Dialog zwischen den Instrumenten entscheidend. Man ist nicht nur ein Instrument, sondern wie ein Charakter in einer Opernhandlung. Da gibt es Sopranfärbungen und Alt-Färbungen, baritonale, auch Tenor oder Bass;
diese Opernwelt hat mich schon immer fasziniert, und das versuche ich im Dialog mit dem Klavier umzusetzen. Mozart schreibt ja immer unglaublich melodisch, auch für Klavier, und es ist erstaunlich, wie opernhaft seine Melodien sind. Von dieser Farbenwelt kann man sich inspirieren lassen und dem dann für die heutige Welt ein anderes Format geben als das einer reinen Salonmusik, die es damals war.
Ist das eine Hinzufügung von Ihnen oder sehen Sie das in der Komposition angelegt?
Das ist absolut in der Musik angelegt, die Absicht ist die gleiche, nur die Mittel der Verwirklichung sind anders. Die Welt ist ja auch anders geworden. Komponisten haben immer zeitgenössische Musik geschrieben. Diese Aktualität muss man in die heutige Welt übertragen; die Bandbreite, die ein Publikum heute im Konzertsaal erwartet, ist eine ganz andere als früher. Wenn Mozart heute leben würde, da bin ich sicher, wäre er DJ und hätte viel Spaß dabei.
Man hört sogar romantische Klangfarben...
Die Musik ist so geschrieben, das ist nichts Aufgesetztes. Das ist ein Parfüm, dass ich in dieser Musik spüre, in den Akkorden, in den Transitionen, und dann präsentiere ich das so. Die e-Moll-Sonate ist ein Werk, das auch Schubert zugeschrieben werden könnte, in den Melodien und in diesem stringenten Klaviersatz, der nah an Schuberts Liedern ist. Bei der G-Dur-Sonate lässt einen die Art der Variationen an Beethoven denken.
Sie haben in Ihren Transkriptionen viel in flötenuntypisch tiefer Lage gelassen, nur in der C-Dur-Sonate gleich am Anfang oktaviert.
Der Charakter ist sehr martialisch an dieser Stelle, deswegen habe ich das gemacht. Da habe ich mich von Mozarts G-Dur-Flötenkonzert inspirieren lassen. Wenn ich mir nicht ganz sicher war, habe ich zwei Versionen ausprobiert und auch aufgenommen und erst später entschieden, mit etwas Abstand: Was funktioniert besser für den Zuhörer? Aber ich habe insgesamt weniger oktaviert, als es in solchen Transkriptionen üblich ist.
Gibt es in dieser Musik technische Probleme für Sie?
Eine Herausforderung ist die Atemführung, weil man oft in einer Phrase merkt: Oh, da hätte ich gerne etwas mehr Luft, um das noch zu Ende bringen zu können. Da muss man einen kleinen Atmer verstecken, oder man passt die Phrasierung eben an. Wenn das Klavier den gleichen Ton spielt, kann man sehr gut das Atmen verstecken.
Zirkularatmung mögen Sie nicht?
Ich mag sie nicht bei Musik, die nicht dafür gemacht ist. Mozarts Musik ist so melodisch und arios geschrieben, das muss man mit dem Atem schaffen, sonst entfernt man sich vom Wesen dieser Musik. Ich wende Zirkulartechnik an in modernen Stücken, die dafür gedacht sind. Aber bei Mozart gibt es keine Notwendigkeit dafür.
Warum gibt es eigentlich aus der Zeit ab Mozart nicht mehr so viel Musik für die Flöte? Vorher war sie ja sehr populär.
Vielleicht hat jedes Instrument seine Zeit – die E-Gitarre zum Beispiel ist in der Pop-Musik heute viel weniger wichtig als in den 80er und 90er Jahren. Weil es andere Ausdrucksmittel und neue Entwicklungen gibt. So ähnlich ist es damals mit der Flöte gewesen. Es gab in Dresden, Potsdam und Mannheim diese Goldene Zeit der Traversflöte. Auch in Frankreich vor der Revolution, denken Sie an Devienne. Dort ist Mozart auch mit dieser Musik in Kontakt gekommen. Aber neue Entwicklungen fanden dann bei anderen Instrumenten statt; die Klarinette kam auf, das Klavier, dessen Reise damals erst anfing, war in stetiger Veränderung. Die Streicher erfanden eine neue Bogentechnik, die Hörner bekamen neue Mundstücke und wurden chromatisch. Bei der Flöte hat das noch ein bisschen gedauert, die Böhmflöte mit ihren neuen akustischen Merkmalen kam ja erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf. Noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts haben viele Flötisten auf Traversflöten mit der alten konische Bohrung gespielt.
Haben Sie sich einmal mit Traversflöten beschäftigt?
Ja, aber nur privat, nie öffentlich. Um zu vergleichen: Wie gut sprechen einzelne Töne an, welche sind stark, welche schwach, welche Möglichkeiten hat man im Legato, in der Artikulation, welche Triller sind möglich, welche nicht. Das ist immer gut, bevor man sich wieder Bach oder Mozart widmet. Das heißt nicht, dass ich mich dann daran halte. Die Welt von heute ist anders als damals, und das Klavier, mit dem wir zusammen spielen, ist völlig anders. Ich spiele diese Musik auf meinem Instrument, weil ich sie liebe und weil ich sie auf dem Instrument, das ich beherrsche, präsentieren möchte. Und dazu nutze ich alle Mittel, die ich für angebracht halte, um sie so gut wie möglich wieder zu beleben.