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Schostakowitsch
„Unstreitig ein Genie“
Der Dirigent Thomas Sanderling ist einer der letzten Zeitzeugen, die noch von einer persönlichen Zusammenarbeit mit Dmitri Schostakowitsch berichten können
Von
Arnt Cobbers
Matthias Creutziger

Er brachte Schostakowitschs Symphonien 13 und 14 und die „Michelangelo-Suite“ zur deutschen Erstaufführung und gastierte seit den 70er Jahren an fast allen großen Opern- und Konzerthäusern der Welt. Er war Chefdirigent in Amsterdam, Osaka und Nowosibirsk, nahm zahlreiche CDs auf und dirigierte 2013 die Uraufführung von Mieczysławs Oper „Der Idiot“ in Mannheim. Geboren 1942 in Nowosibirsk und im damaligen Leningrad (St. Petersburg) aufgewachsen, kam Thomas Sanderling 1960 mit seinen Eltern nach Ostberlin. Er wurde 23-jährig Musikdirektor in Halle/Saale, blieb 1983 in der Bundesrepublik und lebt seit 1987 in London. An den gerade erschienenen „Schostakowitsch-Entdeckungen“ bei der Deutschen Grammophon ist er, ebenso wie an den beiden vorangegangenen, als Dirigent der Sächsischen Staatskapelle Dresden beteiligt.

Herr Sanderling, wir gehen immer davon aus, dass Interpreten, die mit einem verstorbenen Komponisten noch selbst zusammengearbeitet haben, einen „authentischeren“ Zugang zu dessen Werk haben.

Ich denke, das trifft bei Schostakowitsch in besonderem Maße zu. In seiner Musik spielen sehr spezifische historische, mentale und ästhetische Fragen eine große Rolle. Seine Hauptwerke, und das sind viele, spiegeln sein Schicksal und sein Leiden, aber auch das der gebildeten Schicht in der Sowjetunion seiner Zeit – jener Schicht, die man in Russland früher „Intelligenzija“ genannt hat. Das Schicksal hatte ihn sozusagen dazu auserkoren, auszudrücken und der Welt mitzuteilen, was damals im Land und in diesen Menschen vorging.

Wie haben Sie Schostakowitsch kennengelernt?

Das war ein unglaublich glücklicher Zufall. Nachdem ich einen Wettbewerb gewonnen hatte, lud mich der Dirigent Jewgeni Swetlanow ein, sein Orchester in Moskau zu dirigieren, übrigens mit einem deutschen Programm. Und da waren zufällig auch Schostakowitsch und seine Frau im Publikum. Schostakowitsch hat nicht nur Konzerte besucht, in denen seine eigene Musik gespielt wurde. Das Konzert lief glücklich, und zu Beginn der Pause sagten einige Musiker zu mir, Schostakowitsch kommt gleich zu Ihnen. Und kaum hatten sie das gesagt, ging die Tür auf, und da war er mit seiner Frau. Es war unbeschreiblich. Nach dem Konzert kam er wieder hinter die Bühne und hat mich in seine Wohnung eingeladen. Das ging aber erst auf der Rückreise, weil ich sofort zum Nachtzug nach Leningrad zur Probe musste. In Moskau habe ich es dann eingerichtet, dass ich ihn besuchen konnte. Dieser Besuch gehört zu den wichtigsten Stunden meines Lebens.

Kannten Sie Schostakowitsch nicht schon über Ihren Vater? Der hat doch auch immer wieder mit ihm zusammengearbeitet.

Natürlich war ich als Kind in vielen Proben und bei vielen Aufführungen in der Leningrader Philharmonie dabei, und Schostakowitsch war oft da, Leningrad war ja seine Heimatstadt. Aber wirklich kenngelernt habe ich ihn erst an diesem Abend in Moskau.

Da hat er Ihnen ja dann die Partituren seiner Symphonien 13 und 14 in die Hand gedrückt. Haben Sie danach mit ihm zusammengearbeitet, oder hat er Ihnen einfach vertraut?

Das war ein bisschen delikat. Ich war einige Stunden in seiner Wohnung und merkte, er würde mich nicht einfach so verabschieden. Also habe ich irgendwann gesagt, ich müsse noch packen und mich deshalb jetzt verabschieden. Da sagte er: Einen Moment, ging in ein anderes Zimmer und brachte mir zwei Partiturkopien, der 13. und der 14. Symphonie, die waren noch nicht verlegt. Er hatte sehr herzliche Worte für mich in beide Partituren hineingeschrieben, das hatte er ganz offensichtlich vorbereitet, es ging alles sehr schnell. Das war unbeschreiblich. Und dann habe ich ihn gefragt, und wenn ich die spielen möchte? Und er sagte: Na, deshalb gebe ich sie Ihnen ja. Ich möchte, dass Sie die deutsche Premiere machen.

Die 13. Symphonie war ja „Babi Jar“, die in der Sowjetunion für viele Jahre nicht aufgeführt werden durfte.

Wir haben zuerst die 14. in Ostberlin gemacht, wegen dieser politischen Schwierigkeiten. Schostakowitsch war 1972 in Gohrisch in der Nähe von Dresden, wo ich damals ein Konzert bei der Staatskapelle dirigiert habe. Ich bin zu ihm gefahren, um über die Solisten zu sprechen, beides sind ja vokalsymphonische Werke. Und in Gohrisch erlebte ich die nächste Überraschung. Er sagte nämlich: Nein, nein, keine russischen Solisten, machen Sie es in der Sprache des Publikums. Damit hatte er mir eine riesengroße Aufgabe übertragen. Ich habe eine sehr gute, opernerfahrene Textdichterin, Waltraud Lewin, gefunden, und wir haben dann gemeinsam aus meiner Rohübersetzung eine Fassung gemacht, die man aufführen konnte. Mir war es wichtig, dass die Ton-Wort-Beziehungen Priorität hatten vor dem Reim. Manchmal kommt ein Pizzicato oder ein Posaunenglissando oder ein Trommelwirbel auf ein bestimmtes Wort. Und wenn das Wort seinen Platz verändert, ist der Sinn weg. 

Beim Gedicht „Babi Jar“ hatten die Behörden übrigens Jewgeni Jewtuschenko zu einer Textänderung gezwungen – die Schostakowitsch geärgert hat. Wir haben stillschweigend die Originalversion übersetzt. In der 14. Symphonie haben wir in den letzten beiden Sätzen die deutschen Originale der Gedichte von Rilke benutzt. Das ging erstaunlicherweise leicht, nur in einem Takt fehlten Noten, weil es im Russischen keine Artikel gibt. Da hat er die Gesangsstimme sofort für mich umkomponiert. Wir haben also erst einmal die 14. Symphonie aufgeführt, er hat die Rundfunkübertragung gehört, und das hat ihm offensichtlich gut gefallen, wie ich von anderen erfahren habe. 

Und dann passierte Folgendes: Ich habe das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin oft dirigiert – ich hatte eine Vereinbarung mit meinem Vater, dass ich sein Orchester, das Berliner Sinfonie-Orchester, nicht dirigiere, damit nicht der Verdacht aufkäme, er würde mich protegieren. Im Management des Rundfunkorchesters gab es die Frau Brennecke. Als ich sie nach nächsten Ideen fragte, habe ich ihr gesagt, ich würde als Nächstes gern die 13. Symphonie dirigieren, aber ich weiß nicht, ob das gehen wird. Und sie sagte: Versuchen wir’s. Sie hat es auf den Konzert- und Abonnementplan gesetzt, und wir haben wieder eine deutsche Fassung erarbeitet. Das Rundfunkorchester unterstand nicht dem Kulturministerium, sondern dem Rundfunksystem. Und die Beamten da im Apparat wussten nicht Bescheid über die Probleme, die es wegen dieser Symphonie in Moskau gab. Eines Tages haben sie es aber doch erfahren. In der 13. Symphonie gibt es ja einen Männerchor, nur Bässe, und plötzlich waren die Opernchöre am geplanten Aufführungstermin nicht mehr verfügbar. Aber dann hat uns wieder der Zufall gerettet. Schostakowitsch kam nach Ostberlin zur Premiere von „Katharina Ismailowa“ in der Lindenoper. Da hat er mich in meiner Ostberliner Wohnung besucht, in nicht guter gesundheitlicher Verfassung. Es war unsere letzte persönliche Begegnung. Das war sechs Wochen vor unserem Konzerttermin. Und da hat sich die Staatsmacht wohl überlegt, das gäbe einen Skandal, wenn sie die Premiere der 13. Symphonie absagen. Und so hat sie doch stattgefunden. Nur: Keine einzige Zeitung hat über das Konzert geschrieben. Keine einzige. Aber es gab den Mitschnitt des Rundfunks. Den hat Schostakowitsch auch wieder gehört, er rief bewegt an, und so ging unsere Zusammenarbeit weiter mit der „Michelangelo-Suite“. Die hatte er zuerst für Klavier geschrieben, die Orchestrierung war die letzte Arbeit vor seinem Tod. Sein Sohn Maxim gab mir die Partitur in Ostberlin, damit ich sie aufführe. Die Orchesterversion hat Schostakowitsch nicht mehr gehört.

Haben Sie mit Schostakowitsch gemeinsam an der Musik gearbeitet?

Schostakowitsch brauchte Künstler, die ihn verstehen. Er dachte, wenn ihn jemand nicht von selbst versteht, dann nutzt eine Erklärung auch nichts. Und ich gehörte offensichtlich zu denen, die in diesen Kreis kamen. Ja, Schostakowitsch hat Druckfehler gehasst, in diesen zwei Partituren, die ich habe, sind die Druckfehler mit Rotstift korrigiert. Und er sagte ganz praktische Sachen, zum Beispiel hier Crescendo früher oder die kleine Trommel mit der Seite, oder hier steht das Con Sordino zu früh … Das ja. Aber über mehr hat er nie gesprochen. Ich habe auch eine Vermutung, warum er nie über das Inhaltliche gesprochen hat: Da ging es überwiegend um Leiden und Kritik. Deshalb brauchte er Partner, die das verstanden und keine Fragen hatten. 

Auf Bildern wirkt er fast immer ernst und geradezu leidend am Leben und den Umständen. War er so, oder haben Sie auch eine andere Seite kennengelernt?

Ich glaube, überwiegend war er so. Das ist ja auch kein Wunder, wenn man seinen Lebensweg kennt. Was ich betonen möchte: Natürlich war er ein Genie, das ist das Allererste. Aber er war in seiner Natur ausgesprochen menschlich, er war ein Humanist. Das war ihm unwahrscheinlich wichtig. Wenn er Menschen helfen konnte, hat er das immer gemacht, auch wenn es riskant für ihn war – meinem Vater übrigens auch mal in einer nicht ungefährlichen Situation. Das war vielleicht sogar das Wichtigste für ihn, die Menschlichkeit und Solidarität. Das kann ein westlicher Bürger heute gar nicht beurteilen, was für ein Mut dazu gehörte. Zum Beispiel als Mieczysław Weinberg verhaftet worden war, da hat er einen Brief an Beria geschrieben, in dem er ihn bat, sich die Sache noch mal anzuschauen, das sei bestimmt ein Missverständnis. Das hat er auch für den Vater eines Schulfreundes getan, den er gar nicht kannte.

Wenn Sie sagen, er war unstreitig ein Genie, wie drückt sich das aus?

Dafür hat man eine Antenne, oder man hat sie nicht. Entweder man erkennt, dass Mozart ein Genie war und Salieri nicht unbedingt, oder man erkennt es nicht. Das hat nichts mit dem Auftreten des Menschen zu tun. Was ich aber sagen muss – und hätte ich es nicht selbst ein paarmal erlebt, würde ich es nicht glauben: Wenn Schostakowitsch irgendwo ankam oder einen Raum betrat, dann war sofort Stille. Er hatte kein bewusstes Auftreten, er war sehr bescheiden gekleidet und gesundheitlich angegriffen. Aber selbst Menschen, die ihn nicht kannten, haben sofort reagiert. Das habe ich in meinem Leben nie wieder erlebt. Er hatte ein wundersames Charisma oder auch ein Stigma.

Haben Sie eine Empfehlung für Menschen, die Schostakowitschs Werk kaum kennen? Wie nähert man sich ihm am besten?

Er war natürlich enorm vielseitig. Aber vielleicht doch mit der vierten, der achten und der zehnten Symphonie. Ich glaube, wenn man diese Grundlage verdaut hat, dann kann man sich nach und nach den anderen Symphonien nähern. Ich liebe zum Beispiel die Sechste sehr. Und ich finde auch die Erste, die er mit 19 Jahren geschrieben hat, auffallend genial. Für die 15. Sinfonie muss man wahrscheinlich doch schon sein musikalisches Lebenswerk kennen.

Sie haben viele Aufnahmen gemacht, aber keinen kompletten Zyklus der 15 Symphonien. 

Aber ich habe sie alle aufgeführt – mit Ausnahme der Zwölften, das ist, wie man hier in London sagt, not my cup of tea. Aber ansonsten auch alle Instrumentalkonzerte, die „Michelangelo-Suite“ zweimal und auch einige Vokalzyklen in meinen eigenen englischen Fassungen. Ich weiß nicht, warum ich nie alle Symphonien aufgenommen habe. Mein Vater hat das übrigens auch nicht getan, Mrawinsky auch nicht. Nur Brahms habe ich komplett aufgenommen – mit dem Philharmonia Orchestra London.

Wie war es eigentlich für Sie, als Sie mit 17 Jahren mit Ihren Eltern von Leningrad nach Ostberlin gezogen sind?

Das war das erste Mal, dass ich im Ausland war, das war ein Traum. Und ganz schnell habe ich einen Unterschied bemerkt: Trotz allem war Stalin in der Sowjetunion in der breiten Bevölkerung immer noch eine Ikone, da herrschte immer noch das Gefühl, das ist unser Staat, unsere Macht. Die Intelligenz war überwiegend regimekritisch. Und in Ostdeutschland, in der DDR fanden sich die Sympathisanten mit der Gesellschaftsordnung, der Staatsmacht wenn überhaupt, dann in der Intelligenz, nicht in der breiten Bevölkerung.

Sie sind mit 23 Jahren Musikdirektor in Halle/Saale geworden, haben oft an der Lindenoper in Berlin, aber auch an der Wiener Staatsoper und in München dirigiert, waren Chefdirigent in den Niederlanden, in Japan und in Russland  und wohnen seit fast vierzig Jahren in London. Fühlen Sie sich als Weltbürger?

Ich bin gestern aus Tokio zurückgekommen. Und mir ist wieder bewusst geworden: Ich fühle mich als Europäer. Die europäische Kultur, das sind meine Wurzeln. Und dieses Gefühl, Europäer zu sein, wird stärker.

Gehört in diesem Sinn auch Russland zu Europa?

Das ist eine sehr schmerzliche Frage. Ich glaube, viele kultivierte Menschen haben Russland inzwischen verlassen. Ich war ja seit 2017 Chefdirigent in Nowosibirsk. Und sofort nach dem Einmarsch in die Ukraine habe ich mit Russland gebrochen. Und zwar öffentlich, in der BBC, bei der Deutschen Welle und so weiter. Das hat auch etwas mit Schostakowitsch zu tun. Ich war mit dem Deutschen Sinfonieorchester Berlin ein paar Monate vor der Invasion in Babi Jar, zum achtzigsten Jahrestag des Massakers. Das hat uns alle sehr bewegt, unser Präsident Steinmeier hat da eine sehr gute Rede gehalten. Das war ein großes gemeinsames Erlebnis, der Chor kam aus Kiew. Und als die Invasion geschah, war ich gerade beim Estnischen Nationalen Sinfonieorchester – mit der elften Symphonie von Schostakowitsch. Ein oder zwei Tage später habe ich auf CNN gesehen, wie eine russische Bombe in Babi Jar heruntergekommen ist. Das war ein Schock, und da war es aus für mich. 

Haben Sie noch die russische Staatsbürgerschaft?

Nein, die ist ausgelaufen. Das Mariinski-Theater hatte mir aus praktischen Gründen einen russischen Pass arrangiert, weil ich damals oft am Mariinski und am Bolschoi gastiert habe, dann brauchte ich kein Visum, wenn ich von Westeuropa nach Russland fliegen wollte. 

Für St. Petersburg hegen Sie wahrscheinlich heimatliche Gefühle, oder?

Ja, aber ich habe in meiner Kindheit nicht begriffen, dass Petersburg schon sehr europäisch ist. Wenn wir uns die größten Komponisten des 20. Jahrhunderts anschauen: Mahler, Richard Strauss, Bartók, Strawinsky, Schostakowitsch, Prokofjew, Schönberg, Berg, Webern – drei von ihnen sind in der Stadt St. Petersburg geformt worden. Das ist unglaublich. Ich verdanke meinen Vornamen übrigens der Anbetung meines Vaters für Thomas Mann. Von dem gibt es einen großen Essay über die Bedeutung von Lew Tolstoi. Seit Tolstoi, Tschechow und Dostojewski hat auch die russische Literatur einen großen Einfluss ausgeübt auf die Weltliteratur. Das ist jetzt auch vorbei.

Das ist tragisch. Man muss hoffen, dass sich bald etwas ändert in Russland. Aber ich möchte jetzt nicht politisch werden. 

Davor habe ich keine Angst. Ich würde mich freuen, wenn mehr Kollegen politisch wären. Jeder muss doch mit mir übereinstimmen, dass die dringendste Hoffnung ist, dass dieser Krieg aufhört. Was die Ukraine durchmacht und leistet, ist unglaublich.

Glauben Sie, dass Schostakowitschs Musik gerade jetzt, in dieser für viele Menschen bedrohlichen Situation, helfen kann?

Ja, ich glaube, das hat Bedeutung, und ich freue mich zum Beispiel sehr, dass in Polen wieder Schostakowitsch gespielt wird. Wie ich übrigens auch sehr froh bin, dass man dort nun Weinberg als wichtigen polnischen Komponisten erkannt hat. Ich glaube, wenn Schostakowitsch noch leben würde, dann hätte er auf diese Invasion reagiert, da hätte es ein Werk gegeben. Die elfte Symphonie trägt ja den Titel „1905“, das war das Jahr der ersten Revolution in Russland, aber in Wirklichkeit war die Symphonie Ausdruck seiner Empörung und der der Intelligenz über die Niederschlagung des ungarischen Aufstands 1956. Die Symphonie kam 1957 heraus, und jeder, der mit seiner Musik vertraut war, hat das herausgehört. Aber ganz offensichtlich hatte er gegen Ende seines Lebens das Bedürfnis, seiner Musik Texte beizugeben. Als er mich damals in meiner Ostberliner Wohnung besucht hat, habe ich ganz klar gespürt: Er wusste, er ist in seiner letzten Lebensphase, ihm ging es gesundheitlich nicht gut. Und da griff er zu Texten, damit eine breitere Gesellschaft begreift, was er ausdrücken will.

Das klingt, als hätte er das Gefühl gehabt, die Leute hätten seine Musik nicht wirklich verstanden.

Er wollte für das breite Publikum deutlicher werden, ja. Aber die gebildete Schicht hat ihn schon verstanden. Aber eines muss ich noch klarstellen: Sie können das Prinzip der Sprache des Publikums nicht immer durchziehen. Wenn man sich seine Musik auf Texte von Shakespeare, Burns oder Michelangelo ansieht, ist es erstaunlich, wie sehr er in den fremden Sprachen, die er nicht sprach, die Ästhetik und den Geist dieser Werke gespürt hat.

Würden Sie aber dafür plädieren, dass man zum Beispiel „Babi Jar“ in Deutschland auf Deutsch singt und nicht im russischen Original? 

Ja, ich würde für Deutsch plädieren. Und zwar nicht nur, weil das Schostakowitschs Forderung war, sondern vor allem, weil es dem Publikum noch eine direktere Nähe zum Werk bringt. Das erinnert mich an etwas sehr Lustiges, das war typisch Schostakowitsch nach der fünften Sinfonie, als er gelernt hatte, über seine Musik nicht die Wahrheit zu sagen. Was ich übrigens für völlig richtig halte, das war absolut richtig, um sein geniales Talent und seine Familie zu retten. Er hat gesagt, das Geräusch, wenn die Leute den Text im Programmheft verfolgen und umblättern müssen, sei so störend. Deshalb solle man in der Landessprache singen. Das war natürlich nicht die Wahrheit. Und ich kann mich erinnern, dass es ihn in Gohrisch, das war ja ein Gästehaus der Regierung, zu persönlichen Gesprächen immer nach draußen gezogen hat. Er lebte in einem Land, wo in guten Hotels die Zimmer abgehört wurden …

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