Dieser Mann ist ein Phänomen: Er gilt als der Super-Virtuose schlechthin auf dem Klavier, ist aber auch ein exzellenter Musiker. Er entdeckt immer neue Werke, die er auf CD dem Publikum präsentiert, komponiert selbst mit Witz und Fantasie – und ist zudem ein sehr angenehmer, freundlicher Gesprächspartner. Nach dem Interview sagt er noch, er habe vor kurzem wieder mal Busonis Klavierkonzert gespielt und sei froh, dass er das mit 62 Jahren noch spielen könne. Als ich sage, es gäbe doch wohl nichts, was er nicht spielen könne, antwortet er, er merke doch langsam das Alter. Beim Konzert beim Berliner Klavierfestival waren beim abschließenden, höllisch virtuosen „Gaspard de la nuit“ jedenfalls keine Verfallserscheinungen zu bemerken. Hamelin, der aus Montreal stammt und seit langem in Boston wohnt, wurde vom euphorischen Publikum zu vier Zugaben genötigt.
Herzlichen Glückwunsch, Mr. Hamelin, zu 30 Jahren beim Label Hyperion und Ihrer 60. CD dort.
Danke, aber es sind sogar 64 CDs. Und drei weitere sind schon aufgenommen. Sie können sich also auf noch mehr freuen. (lacht)
Und insgesamt haben Sie ungefähr 130 CDs aufgenommen.
Ich gucke mir tatsächlich immer mal wieder die Zahlen an. Es sind 64 für Hyperion und 24 für andere Labels. Die Kompilationen, bei denen mehrere Pianisten vertreten sind, zähle ich nicht mit.
Warum machen Sie so viele CDs?
Das Klavierrepertoire ist ein weites Feld für Entdeckungen, das fasziniert mich. Natürlich sind viele Stücke nicht wirklich gut, über vieles ist auch die Zeit hinweg gegangen. Aber es gibt immer noch so vieles, was gut ist und Freude bereiten kann. Solche Stücke möchte ich gern dem Publikum präsentieren – und den Pianisten, damit sie mehr Repertoire kennenlernen.
Es ist also sowohl Pflicht als auch Vergnügen?
Es bereitet mir Vergnügen. Aber ich empfinde es auch als Pflicht, meine Entdeckungen mit der Öffentlichkeit zu teilen.
Sie nehmen aber auch mehr und mehr „Standardrepertoire“ auf.
Ich habe immer Standardrepertoire gespielt. Allerdings weniger aufgenommen, das stimmt. Ich habe ohne Anleitung angefangen zu spielen und aufzunehmen, was das Programm angeht. Ich hab einfach gespielt, worauf ich Lust hatte. Ich habe als Teenager Charles Ives‘ Concord Sonata entdeckt und etwas später Boulez und Stockhausen und Cage und Xenakis. Ich habe mir die Noten gekauft und Aufnahmen gehört, weil ich davon so fasziniert war. Meine Lehrer fanden das nicht so toll, aber ich wollte Neues kennenlernen. Ich hatte das Glück, dass ich einen großen Teil des Standardrepertoires sehr früh über meinen Vater kennengelernt habe, der ein sehr guter Amateurpianist war. Er hat viel Romantik gespielt, aber auch Wiener Klassik. Und ich war schon immer neugierig. Und ich mochte schon immer das Schräge und Abgelegene.
Und es gab immer eine Plattenfirma, die das aufnehmen und herausbringen wollte?
Ich erzähle Ihnen, wie es angefangen hat: Meine erste Aufnahme war Teil eines Preises, den ich bei der Carnegie Hall International American Music Competition 1985 gewonnen hatte. Das Label hieß New World Records und hatte nur amerikanische Musik im Programm. Ich habe dann William Bolcom und Stefan Wolpe gewählt. Dann bekam ich ein Angebot von CBC Records, dem Label des kanadischen Rundfunks. Die wollten kein Standard-Repertoire, und deshalb hab ich für sie Godowsky eingespielt. Und dann lud mich New World Records ein, die Concord Sonata aufzunehmen. Selbst wenn ich also Standard-Repertoire hätte aufnehmen wollen – ich hatte gar keine Chance. Die ersten drei Aufnahmen haben mich in die Spur gesetzt, und es hat tatsächlich viele Jahre gedauert, bis ich begonnen habe, Standardrepertoire aufzunehmen. Aber im Konzert hab ich das immer gespielt.
Warum haben Sie sich dann exklusiv an ein Label gebunden?
Ich fand die Vorstellung schön, für ein Label konstant aufnehmen zu können. Und dann kam Hyperion auf mich zu. Mike Spring, einer der größten Klavierexperten, die ich kenne, kam zu einem meiner Konzerte. Er hatte meine Godowsky-CD gehört und fragte mich, ob ich für ihre Reihe der romantischen Klavierkonzerte eine Aufnahme machen wolle. Ich wollte. So ging es los.
Und die sagen Hurra zu all Ihren Ideen?
Zu den meisten. (grinst)
Wenn Hamelin auf dem Cover steht, finden sich genug Käufer?
Das weiß ich nicht. Aber wenn die Label-Leute nicht zufrieden wären, würden sie nicht immer weiter Aufnahmen mit mir machen.