
Als sich der Jazz Anfang des 20. Jahrhunderts in New Orleans und anderen Orten etablierte, roch diese Musik nach Blues, Tabak und dem Freiheitsdrang der unterdrückten Schwarzen. Jazz erklang in verrauchten Lokalen, im Rotlichtviertel Storyville oder auf der Straße.
Nachdem die Marine die Vergnügungsviertel von New Orleans im Ersten Weltkrieg geschlossen hatte, zogen afroamerikanische Musiker und auch Sängerinnen aus dem Süden nach Chicago oder New York. Der Jazz verbreitete sich und wurde immer populärer – eroberte als Swing der Zwanzigerjahre die Tanzsäle der weißen Bevölkerung. Es begann die Zeit der Bigbands und der orchestralen Jazz-Arrangements.
In New York wurde Harlem zum Epizentrum mit florierenden Nachtclubs wie dem legendären Cotton Club. In glamourösen Revue-Shows spielten dort groß besetzte Jazzorchester. Zu den Klängen unterhielten schwarze Tänzerinnen und Tänzer ein vorwiegend weißes Publikum. Ganz ungeniert wurden dabei rassistische Vorurteile über den ungezähmten Schwarzen bedient. Für die Besucherinnen und Besucher war der Abend eine Reise in eine exotische „Dschungelwelt“ – entsprechend war die Inneneinrichtung gestaltet.
Zwischen solchen Nachtclubs und dem klassischen Konzertsaal klaffte ein tiefer Graben. Für die konservative Kulturszene galt Jazz als anrüchig, als reine Unterhaltungsmusik und als Sound der kriminellen Milieus der Prohibitionszeit. Wegen seines „bedeutungslosen Krachs“, seines „berauschenden Effekts“ und seiner „primitiven Farben“ gehöre dieser Stil „in die unterste Schublade des menschlichen Geschmacks“, warnte einst die in New Orleans herausgegebene Zeitung The Times-Picayune.
Dass Jazz einmal die ehrwürdigen Klassikpodien erobern würde, auf denen Beethoven oder Mozart regierten, schien undenkbar. Doch genau das passierte damals: Jazz zog vom Tanz- in den Konzertsaal – und veränderte beide Welten.
Der selbsternannte „King of Jazz“
Zu den Musikern, die diesen Graben überbrückten, gehörte der in Denver geborene Paul Whiteman. Er nannte sich selbst „The King of Jazz“, allerdings wird bis heute diskutiert, wie viel echter Jazz in seiner Musik steckte. Whiteman war von Haus aus klassisch ausgebildeter Geiger und Bratschist, spielte zunächst unter anderem im San Francisco Symphony. Später leitete er Tanzkapellen, für die er renommierte Jazzmusiker wie Bix Beiderbecke verpflichtete. Sein kommerzieller Erfolg war enorm, auch auf dem Plattenmarkt. Millionenfach verkaufte sich sein Foxtrott „Whispering“, der 1920 bei Victor erschien.
Whitemans Absicht war es, den rauen und improvisierten Stil des Jazz zu verfeinern: Er setzte auf eine größere Besetzung mit ausschließlich weißen Musikern und auskomponierten Arrangements, die der Komponist Ferde Grofé für ihn anfertigte. In dieser Form sollte Jazz dem bürgerlichen Konzertpublikum erschlossen werden, wobei Whiteman der Musik auch „das Stigma seiner barbarischen Herkunft“ nehmen wollte. Das sagt viel darüber aus, wie Jazz damals gehört wurde.
Am 12. Februar 1924 gab Whiteman in der New Yorker Aeolian Hall ein Konzert, das als Geburtsstunde des sinfonischen Jazz gilt. Angekündigt wurde es als „An Experiment in Modern Music“. Die Veranstaltung war ein echter Publikumsmagnet. In den Reihen saß etliche Musikprominenz, darunter der Komponist Sergej Rachmaninow, der Dirigent Leopold Stokowski und der Geiger Fritz Kreisler.
Geboten wurde neben Dixieland, Ragtimes und Jazzschlagern als Höhepunkt die Uraufführung von George Gershwins „Rhapsody In Blue“, vom jungen Komponisten selbst am Klavier gespielt.
In diesem virtuosen Konzertsatz mischte Gershwin einen improvisiert klingenden Klavierpart mit Jazzrhythmen und Blues-Melodik. Das aufheulende Klarinetten-Glissando zu Beginn wurde zum ikonischen Startsignal der Verschmelzung zweier Welten: Jazz und Klassik. Um die Fusion akustisch und optisch zu verdeutlichen, spielten in Whitemans rund 25-köpfiger Bigband auch Streicher sowie Hörner mit, und er dirigierte mit einem Taktstock. Anschließend tourte Whiteman mit dem Programm durch die USA.
Jazzeinflüsse in klassischer Sinfonik
Gershwin komponierte danach weitere Werke im Stil des sinfonischen Jazz, nun auch für klassisches Orchester. Der gefeierte Songschreiber war allerdings nicht der Einzige, der den Jazz auf diese Weise mit der Klassik verschmolz und in den Konzertsaal holte.
So legte der in Berlin und Paris ausgebildete US-Amerikaner George Antheil mit „A Jazz Symphony“ ein ebenfalls von Whiteman inspiriertes Musikstück vor, das Merkmale des New-Orleans-Stils wesentlich kühner auf ein Sinfonieorchester übertrug. Neben drei Klavieren wirkten bei der Premiere am 10. April 1927 in der New Yorker Carnegie Hall etwa zwei Banjos mit, und die Bläser wurden jazztypisch eingesetzt. Allerdings stellte Antheils ebenfalls aufgeführtes „Ballet Mécanique“, das einen Skandal erzeugte, seine „Jazz Symphony“ damals weitgehend in den Schatten.