
Beethoven-Sonaten werden so gut wie immer mit Beethoven-Sonaten kombiniert. Severin von Eckardstein wollte es anders machen. Der in Berlin lebende Pianist, der mit dem Gewinn des Königin-Elisabeth-Wettbewerbs 2003 seinen Durchbruch feierte und als einer der tiefgründigsten Klaviervirtuosen unserer Zeit gilt, koppelt auf seinem neuen Album Beethovens op. 111 mit Messiaens „Regard de l‘Eglise d‘amour“, Skrjabins „Vers la flamme“ und Strauss‘ „Tod und Verklärung“ in einer eigenen Transkription für Klavier.
Herr von Eckardstein, welche Idee steht hinter dem Programm?
Es ist eine Reise vom Irdischen zum Licht, es geht um die Frage, wie Leben und Tod miteinander in Verbindung stehen. Nun kann man sagen, es sei generell die Funktion der Musik, dass sie einen in eine neue Bewusstseinsebene katapultiert. Aber ich denke, die vier Werke auf dieser CD tun das in besonderer Weise, sie strahlen eine ungeheure Kraft aus. Bei Strauss geht es um einen todkranken Menschen, der leidet, der aber doch am Ende seines Lebens zu neuen Sphären aufsteigt und Erlösung findet. Bei Beethoven geht es auch zunächst um etwas Bedrohliches, Irdisches, aber er betrachtet das eher philosophisch. Beethoven gibt nie viel Persönliches preis, alles unterliegt einer strengen, architektonischen Form, und deshalb wirkt seine Musik wie in Stein gemeißelt. Aber in seiner letzten Klaviersonate überschreitet er eine Grenze, man spürt die zerklüftete Welt, die er erahnt, hier hat er die Form schließlich so sehr erweitert, dass er zu neuen Sphären aufsteigen kann.
Wann haben Sie op. 111 für sich entdeckt?
Ich habe es schon als Zwanzigjähriger gespielt. Es wird immer gesagt, da sei man noch nicht innerlich reif, es zu interpretieren, aber dem würde ich überhaupt nicht zustimmen. Denn man reift ja auch mit diesem Werk. Das erscheint in jeder Lebensphase in einem neuen Licht. Meine Eltern hatten eine LP mit späten Beethoven-Werken, gespielt von Andor Foldes. Ich kann mich erinnern, wie ich als kleiner Junge diese Platte gehört habe und wie ich die Schattierungen in dieser Klaviermusik, wenn es ganz vereinnahmend bedrohlich wurde oder dann wieder etwas heiterer, lustiger, ganz intensiv wahrgenommen habe. Auf dem Cover war eine Landschaft mit knorrigen Eichen abgebildet. Unwillkürlich starrt man die ganze Zeit da drauf und nimmt die Musik dann auf besonders expressive Art und Weise wahr, der Eindruck in Verbindung mit diesem Bild war sehr stark. Dieses Störrische und letztlich auch schon Verlorene in der Musik – Beethoven ist da an eine gewisse Grenze gekommen und wusste vermutlich selbst nicht, wie ihm geschah. Es gibt immer wieder Momente des Innehaltens, gewisse Zäsuren, die manchmal auskomponiert sind, manchmal auch nicht direkt, die man aber immer aufspüren kann. Das ist das, was unsere persönliche Haltung zu einem Musikstück herausfordert. Alles ist in den Noten angelegt, aber das Gefühl, aus dem heraus eine Komposition entstanden ist, das findet man nicht direkt in den Noten. Da setzt die Interpretationskunst an. Es ist wichtig, diese Anhaltspunkte, diese gewissen Brüche oder unlogischen Übergänge aufzuspüren.
Beethovens Sonate hat als einziges der vier Stücke keinen Titel.
Das spielt keine Rolle. Man taucht ja in die Musik hinab und orientiert sich nicht am Titel. Allerdings ist es manchmal praktisch, wenn solch ein Leitgedanke verbalisiert wird. Messiaens Zyklus „Vingt regards sur l’enfant-Jésus“ umfasst zwanzig Einzelstücke, die alle in Beziehung zueinander stehen, und es ist hilfreich zu lesen, welche Vision hinter einem Stück steht. Dieses letzte Werk aus dem Zyklus ist wie eine Conclusio all dessen, was vorangegangen ist. Es zeigt noch einmal, dass alles einem Pol entspringt: Gott, der über uns allem steht, es verherrlicht die Kraft, die von ihm ausgeht. Diese Musik hat mich beim ersten Hören ergriffen. Sie ist, ähnlich wie bei Beethoven, nicht sehr persönlich, sondern öffnet einen Klangraum, einen Freiraum, um für sich selbst die Musik zu erfahren. Wenn man sich auf sie einlässt, spürt man, dass dieses Anarchische, Raue sich zu einem großen Ganzen fügt, zu einer Struktur, dass es eine Atmosphäre schafft, die sich einem einprägt wie eine besondere Landschaft. Es findet alles zu einer Ordnung und dadurch zu einem höheren Frieden.