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Interview
Vom Sündenschlaf erwacht
Der Barockgeiger Gunar Letzbor stellt mit seinem Ensemble Ars Antiqua Austria Franz Joseph Aumanns Passionsoratorium aus dem Stift St. Florian vor
Von
Klemens Hippel
Daniil Rabovsky

Die Pandemie machte es möglich! Weil Gunar Letzbor während einer Aufnahme 2021 im Stift St. Florian in den Pausen ohnehin nichts anderes tun konnte, schaute er sich im Archiv die angeblich unvollständig überlieferte Partitur eines Oratoriums des Augustinerchorherren Franz Joseph Aumann (1728-97) genau an – und fand, dass doch fast alles des bemerkenswerten Werkes erhalten war. Das wenige, was fehlte, ließ sich im 75 km entfernten Prämons­tratenserstift Schlägl und im 120 km entfernen Benediktinerstift Admont auftreiben. Und so konnte nun das gesamte, fast zwei Stunden dauernde katholische Passionsoratorium aufgenommen werden. Der Barockgeiger Gunar Letzbor widmet sich mit seinem 1989 gegründeten Ensemble Ars Antique Austria vor allem vergessener Habsburger Barockmusik. Seine Aufnahmen (oft Ersteinspielungen) umfassen Werke u.a. von Schmelzer, Biber, Veijvanovsky, Muffat, Vilsmayr und Aufschnaiter.

Herr Letzbor, wer andere Passionsmusiken dieser Zeit kennt, erlebt hier eine Überraschung: Dieses Oratorium beginnt mit dem Erdbeben nach dem Tode Jesu.

Das ist ein ganz großer Unterschied zu den protestantischen Passionsmusiken. Hier steht nicht das Leiden Jesu im Zentrum, sondern das Wunder seiner Liebe zu den Menschen bis zum Tod, mit dem er uns von den Sünden reinwäscht. In Österreich gab es ja in Wien die Tradition der Sepolcri, Oratorien in italienischer Sprache, die am Grabe in der Hofburgkapelle aufgeführt wurden. In den Klöstern hat man dann seit den 20er Jahren des 18. Jahrhunderts begonnen, Oratorien und Kirchenmusik in der Landessprache aufzuführen, um die Gefühlswelt der einfachen Gläubigen anzusprechen – ein Akt der Gegenreformation. Zuerst zu Weihnachten, dann aber auch in der Fastenzeit. Es gab auch eine Tradition, in den Kirchen Bilder aufzustellen und dann vor diesem Hintergrund Musik fast szenisch aufzuführen. In Schlägl in Oberösterreich zum Beispiel. Hier sind Teile von Aumanns Oratorium erhalten, die offenbar als einzelne Szenen, zusammen mit anderen Stücken aufgeführt wurden, wie der Stiftskapellmeister herausgefunden hat. Aber dieses Oratorium in St. Florian, das zwei Stunden dauert, ist offenbar einzigartig.

Der Text ist pure Betrachtung – ist das dem jesuitischen Hintergrund Aumanns geschuldet?

Ja. Er war Augustiner-Chorherr, aber seine Ausbildung war jesuitisch. Das ist insofern interessant, als es bei ihm um Psychologie geht. Die Musik ist auf den Menschen und seine Empfindungen ausgerichtet. Der Katholik hat damals sein Wissen aus den Bildern in den Kirchen geschöpft, die die Bibel darstellen. Das ist der prinzipielle Unterschied zwischen der protestantischen und der katholischen Musik der Zeit: Die protestantische Musik spricht zu den Menschen. Die katholische Musik beschreibt Bilder. Sie erklärt nicht, spricht direkt das Gefühl an. Deshalb auch diese sehr bildhafte Sprache bei Aumann.

Der Katholik Aumann hat aber auch Brockes-Texte vertont.

Es gibt gerade in Oberösterreich eine lange Tradition des Protestantismus. Das wissen wenige, aber Linz, das unweit von St. Florian liegt, war ein Zentrum des Protestantismus. Es gibt einen alten Bericht des Bischofs von Passau, zu dem die Gegend gehörte, der die Klöster aufsuchte und in St. Florian und in umliegenden Klöstern nur noch Ehepaare gefunden hat. Da musste dann durchgegriffen werden.

Wie sind Sie denn überhaupt auf den Komponisten Aumann gestoßen?

Wir haben mit Ars Antiqua Austria von Anfang an mit den Sängerknaben von St. Florian zusammengearbeitet. So kam die Verbindung mit dem Kloster zustande, und wir haben schon früh Musik von Aumann aufgeführt, der dort wirkte. Er ist heute total unbekannt, aber wenn man seine Partituren ansieht, denkt man, man wäre bei Haydn oder dem jungen Mozart. Zu seiner Zeit war er eine anerkannte Größe. Er war eng befreundet mit Michael Haydn, das hat mich auch interessiert; die Frage, wie das wohl gewesen ist, hat meine Fantasie immer beflügelt. Haydn und Aumann haben sich mehrmals im Jahr getroffen und hatten einen regen Austausch. Außerdem bin ich selbst begeisterter Hobby-Bratscher, und Aumann hatte eine Vorliebe für die Bratsche – es gibt ja auch in der Passion große Bratschen-Soli. Ich habe schon im Studium ein Duett von ihm gespielt, da hatte der Geiger nichts zu tun und der Bratscher hatte ein „Violinkonzert“.

Sie orientieren sich bei der Interpretation an der Oper der Zeit...

Ich kannte Aumann vorher als grandiosen Mess- und sehr eigenständigen Kammermusikkomponisten. Aber dieses Oratorium ist völlig anders. Das ist unglaublich, die erste Alt-Arie zum Beispiel ist eine Bravour-Arie, die jeder Oper der damaligen Zeit Ehre gemacht hätte.

Wenn man Ihre Aufnahme hört, fragt man sich: Wie sicher sind wir eigentlich, dass unsere Art und Weise, Bach zu singen, angemessen ist?

Darf ich Ihnen da eine ganz provokante Antwort geben? Ich finde, dass Bach ganz falsch gemacht wird. Aber versuchen Sie mal, bei der Interpretation einer Bach-Passion etwas zu ändern mit Musikern, die das seit 40 Jahren immer wieder gleich spielen. Sie haben keine Chance.

Nicht einmal mit dem eigenen Ensemble?

Trotzdem! Wir haben eine Stammbesetzung, aber die Musiker spielen auch in anderen Ensembles. Wir sind weit davon entfernt, unser Ensemble ein ganzes Jahr beschäftigen zu können, Ars Antiqua Austria spielt viele Soloprogramme mit großer Continuobesetzung. Es gibt heute eine Aufführungspraxis, die viel rigoroser einengend ist als in meiner Jugend. Wenn sie irgendetwas machen, was gegen die Konventionen verstößt, kommt sofort die Alte-Musik-Polizei. Ich habe es einmal versucht mit Bach, aber wenn ein normaler Barockgeiger 20 Jahre im Geschäft ist, hat er mindestens 40 Mal die Johannespassion gespielt. Und immer gleich. Allein dass man immer mit Damen-Chören statt mit Knaben singt, ist absurd. Das ist so, als wenn man eine Geigenstimme auf der Blockflöte spielt. Das ist ungefähr derselbe Klangfarbenunterschied.

An den kargen Klang bei Aumanns Passionsoratorium muss man sich erst gewöhnen – seine Messen haben ja viel größere Besetzungen mit Bläsern.

Das ist der Fastenzeit geschuldet. Aber mit „karger Klang“ würde ich vorsichtig sein. Das ist doch sehr farbige Musik! Jede Arie hat ihre eigene Klangwelt. Das erinnert sehr an Biber: Eine Händel-Sonate gleicht der anderen. Aber jede Biber-Sonate hat ihre eigene Klangwelt. In den vier großen Arien von Aumanns Oratorium hat der Sünder eine eher dunkle Färbung, die Hoffnung bekommt diese Bravourarie – jede Person hat ihre eigene, stimmige, in sich geschlossene Welt.

Der Glaube, dem der Sopran eines Knaben zugeordnet ist, kommt eher naiv daher.

Da haben wir diese Einfachheit des Glaubens, wie sie damals nicht zu Unrecht gefordert war: eine hingebungsvolle Religionsausübung. Man nähert sich Gott wie ein Kind, nicht wie ein Philosoph. Das ist eine ganz andere Art, den Glauben zu leben. Der Katholik glaubt ja an die Gnade Gottes. Man muss sich dafür nicht profilieren, sie ist ein Geschenk. Das ist das Thema des ganzen Oratoriums, dass der Sünder durch die Gnade Gottes gerettet wird. Er macht dafür nichts, sondern findet den Glauben durch den Glauben, bekommt Hoffnung durch die Hoffnung und wird durch die Liebe zu Christus und umgekehrt durch die Liebe Christi zu den Menschen gerettet.

Die Liebe mit dem Text „Brenne, zarte Liebesflamme“ ist mit einem Tenor besetzt. Damit hätte Bach doch bestimmt einen Alt betraut!

(lacht) Ja, da haben Sie wahrscheinlich recht. Aber hier ist das eher opernhaft gedacht, da ist der Liebhaber eben der Tenor. Und ich finde, dass es wunderbar passt – wenn das mit einer weichen, sinnlichen, schmachtenden Stimme gesungen wird.

Was ist für Sie das Besondere am Komponisten Aumann?

Der Mann hatte eine unglaubliche Phantasie und ein Gespür für Klangfarben. Und warum konnte er so komponieren? Er hat nicht von der Musik leben müssen! Er war Chorherr, sein Alltag war geregelt. Und wenn er Musik geschrieben hat, musste er keine Rücksichten nehmen. Die meisten Musiker damals mussten einfach versuchen, zu überleben. Aumanns Musik war seinerzeit sehr verbreitet, seine Musik ist im heutigen Tschechien, in der Slowakei und Slowenien erklungen. Er war nicht unbedeutend. Als Bruckner Sängerknabe in St. Florian war, wurden dort noch Aumann-Messen gesungen, Jahrzehnte nach seinem Tod. Das war damals sehr ungewöhnlich. Wir wollen jetzt Aumanns große Messe in C-Dur aufnehmen – da zeigt sich sein unglaublicher Fortschrittsgeist. Aumann komponiert mit Medianten und enharmonischen Verwechslungen – alles, was Sie dann bei Bruckner finden, ist hier angelegt.

Werden Sie sich weiter auf die Suche nach solchen Funden machen?

Wir haben in den Archiven noch so viel zu entdecken, das kann man sich gar nicht vorstellen. Ich müsste 500 Jahre alt werden, um das alles noch anzusehen und aufzuführen. Aber ich bin 63 und muss schon auswählen: Das möchte ich noch machen, und das auch, und das – das schaffe ich nicht mehr. Ich habe nichts gegen den Mainstream, aber ich persönlich kann keine Bach-Passion mehr hören. Wo ich von jedem Ton vorher genau weiß, wie er scheinbar interpretiert und leider nicht einfach exekutiert wird, das ist doch uninteressant. Ist es nicht schöner, neue Musik zu entdecken? Aumann ist ja nur einer von vielen. Wenn ich in ein kleines Archiv gehe in Oberösterreich mit ungefähr 1000 Partituren, sind das natürlich nicht alles Meisterwerke. Aber da ist Supermusik dabei, und allein in unserem Raum gibt es hunderte Archive. Und wenn in jedem 100 schöne Stücke warten... Solange es nicht abbrennt, wird ja zum Glück alles aufgehoben. Und vielleicht kommt wieder einmal eine Bewegung, die sich dafür interessiert. Im Moment machen die jungen Leute das meist nicht. Auch in der Alten Musik will jeder Karriere machen. Man interessiert sich nicht für unbekannte Kompositionen und Komponisten, sondern für die fünf oder sechs Komponisten, die en vogue sind. Aber ich muss aufpassen mit meiner Kritik: Als ich jung war, haben die Alten auch schon gesagt: Früher war alles besser. Jetzt bin ich alt und sage dasselbe.

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