
Von Lorin Maazel ist der Spruch überliefert, man könne die Brahms-Sinfonien und vor allem seine Dritte eigentlich fast von vorne bis hinten mitsingen. Vielleicht könnte man es ja auch mit Tanzen probieren: die beiden Auftaktakkorde des Kopfsatzes als Warmmacher – und dann hinein ins Walzervergnügen. Zwar ist dieser Eröffnungsteil der F-Dur-Sinfonie nirgendwo im schlichten 3/4-Takt notiert, sondern in dessen Vielfachen: 6/4, manchmal 9/4, sodass der Dreier-Grundschlag gelegentlich raffiniert verkompliziert wird – wir sind ja schließlich bei Brahms, der es gern verhakelt kontrapunktisch hatte; im Mithören bleibt er dennoch dominant.
Und mehr noch: Am Beginn der Durchführung greifen die Streicher das Seitenthema des Satzes auf, das bei einem ersten Erscheinen in der Soloklarinette in leise wiegender und sanft melancholischer Gestalt erklungen war. Nun aber, nach Moll versetzt und synkopisch die Taktgrenzen überspülend, bekommt es etwas entfesselt Berauschtes und Grenzsprengendes – fast wie eine Vorahnung der fiebrig pulsierenden „Valse“ Ravels und jedenfalls sehr anders, als Brahms die Rhythmen setzt, wenn er die Tanzbezeichnung direkt als Titel gebraucht wie zum Beispiel in seinen „Liebeslieder-Walzern“. In der Sinfonie zeigen sich da markant andere Horizonte: Durch ihre Entgrenzung und die damit verbundenen Umformungsmöglichkeiten kann die Walzerbewegung innerhalb der sinfonischen Architektur nicht nur gleichberechtigt, sondern sogar prägend werden.
Zum Tanzen freilich gäbe es da einige Stolperstellen, wenn die synkopische Bewegung sich erst ins Taktinnere verlagert und schließlich wieder die „glatte“ 6/4-Akzentuierung entlang der Taktgrenzen greift. Nur sind ja gerade solche Möglichkeiten der Irritation und Aufbrechung der innere Sinn sinfonischer Durchführungen – und genau dadurch kommt hier der Drehtanzrhythmus wirklich im Sinfonischen an. Daneben gibt es freilich über das ganze 19. Jahrhundert und weiter bis hin zu Schostakowitsch Beispiele, wo Walzer zwar in sinfonischen oder kammermusikalischen Zusammenhängen erscheinen, aber trotzdem in ihrer „bürgerlichen“ Funktion als Tanzmusik verbleiben und oft sogar ausdrücklich so gekennzeichnet werden: Webers „Aufforderung zum Tanz“ und die Ballsaal-Szene aus Berlioz’ „Symphonie Fantastique“ sind zwei frühe Belege dafür, und im weiteren Umfeld von Brahms’ Dritter häufen sich dann bekannte Beispiele mit oder ohne Kennzeichnung – in Tschaikowskys fünfter Sinfonie ist der entsprechende Satz wirklich als Walzer tituliert, in dessen Sechster als „Allegro con grazia“ (im 5/4-Takt – geht also auch!), in Dvořáks Achter heißt er „Allegretto grazioso“. Zwar sind das ausgebaute sinfonische Sätze mit variativen Fortspinnungen und kontrastierenden Einschüben, doch ihre „Szenerie“ bleibt die eines aristokratischen oder städtischen Tanzbodens, oft verbunden mit einer Stimmung gedämpfter erotischer Traurigkeit.
Ihr gewissermaßen optisch-theatralisches Moment verbindet solche sinfonischen Sätze mit vielen wirklich bühnengebundenen Walzern in Opern und Balletten, die ebenfalls in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur ersten Hochblüte kommen – so bei Delibes, Offenbach und wiederum Tschaikowsky. Sogar der selbsternannte Musik- und Weltretter Wagner, der doch sonst von derlei Banalitäten demonstrativ Abstand hielt, lässt seine „Parsifal“-Blumenmädchen höchst wirkungsvoll im 3/4-Takt girren und locken. Eine vital griffige, lebenszugewandte Variante verkörpert Gounods „Faust“-Walzer mit seinen „swingenden“ Hemiolen-Brücken von Takt zu Takt. Vorher war eine solche schwungvolle Überlagerung von Zweier- und Dreierbewegungen beispielsweise schon von Schumann am Beginn seiner „Rheinischen Sinfonie“ ausprobiert worden – auch das wieder, wie Brahms’ Dritte, eine sehr tanzbare Sinfonie, zumindest bei diesem Einstieg. Dass man bei beiden Anfängen trotzdem nicht gleich eng gefasste Tanzpaare vor Augen hat, hängt an den hier wie dort eher walzeruntypisch ausgreifenden, großintervalligen Melodielinien.
Ein beliebter Ort, um in mehrsätzigen Werken deftig Wiegendes oder elegant Schwebendes unterzubringen, waren die Trios der Menuett- oder Scherzo-Sätze. Auch das zog sich weiter durch das ganze romantische Jahrhundert und schließt zum Beispiel auch – um ein letztes Mal die Nähe der Brahms’schen F-Dur-Sinfonie aufzusuchen – die vom Komponisten selbst so bezeichnete „Tanzweise, welche den Jägern während der Mahlzeit gespielt wird“, im Scherzo-Trio von Bruckners vierter Sinfonie ein. Doch ist, was da vom Österreicher in die Partitur gesetzt wurde, wirklich als Walzer zu bezeichnen?