
Er bekleidet das prestigeträchtigste kirchenmusikalische Amt der Welt: Andreas Reize, gebürtig aus Solothurn in der Schweiz, studierte u.a. Chor- und Orchesterleitung, Orgel und Cembalo und leitete die Singknaben der St. Ursenkathedrale Solothurn, den Zürcher Bach Chor und den Gabrielichor Bern, ehe er 2021 zum 18. Nachfolger Johann Sebastian Bachs als musikalischer Leiter des Thomanerchors Leipzig berufen wurde. Mit ihm führt er jede Woche eine Bach-Motette und an Karfreitag eine Bach-Passion auf.
Herr Reize, was ist und was macht ein Thomaskantor?
Der Thomaskantor ist der Leiter des Knabenchores hier in Leipzig. Es gibt ja viele Knabenchöre, aber die Tradition des Chores mit seinem Bezug zu Bach ist natürlich eine ganz besondere. Hinzu kommt, dass man jede Woche mit dem Gewandhausorchester, einem der besten Orchester Deutschlands, arbeiten kann. Das ist schon einzigartig. Man sollte also eine profunde Ausbildung als Orchesterleiter haben, und das zu kombinieren mit der pädagogischen Ausrichtung ist die große Herausforderung.
Sie sind ja bei den Singknaben der St. Ursenkathedrale Ihrer Heimatstadt Solothurn sozialisiert worden. Braucht man solch ein Fundament, um später selbst einen Knabenchor zu leiten?
Ich denke schon. Ein Knabenchor ist etwas Besonderes. Wenn man da selbst groß geworden ist, weiß man ganz genau, wie es dem Knaben geht in der täglichen Chorarbeit und was man von den Jungs erwarten kann – weil man das selbst mal so mitgemacht hat.
Was ist so reizvoll daran, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten – statt mit einem Profichor?
Ich habe schon alle Arten von Chören dirigiert. Das besondere hier ist aber, dass man jeden Tag mit den Jungs arbeiten kann. Kinder und Jugendliche ein Stück ihres Lebens musikalisch zu begleiten, das bedeutet mir sehr viel. Ihnen möglichst viel mitzugeben von der Musik, sei es Bach, sei es andere gute Musik. Und dann fliegen sie eines Tages aus. Es ist nicht immer einfach, sie gehen zu lassen. Aber es erfüllt mich auch mit Stolz, wenn ich sehe, welche Wege sie später einschlagen.
Können Sie mit einem Knabenchor auf dem Niveau Musik machen, das Ihnen vorschwebt?
Kompromisse muss man doch immer machen. Natürlich gibt es Grenzen, weil man es ja mit Kindern zu tun hat – mit musikalisch vorgebildeten zwar, aber es sind dennoch Kinder. Im Bereich von Uraufführungen zum Beispiel sind wir auch schon an Grenzen gestoßen. Aber mit der Bereitschaft und der Begeisterung von Kindern kann man die Grenzen auch verschieben – und dann staunt man, was dabei herauskommen kann.
Ist ein Knabenchor überhaupt noch ein zeitgemäßes Modell?
Ich sehe die Knabenchöre in Deutschland, der Schweiz und auch in anderen Ländern als Teil einer kulturellen Vielfalt – die unbedingt beibehalten werden muss. Auch vom pädagogischen Aspekt her funktioniert ein Knabenchor anders als ein gemischter Chor, und ich finde es toll, wenn eine Jungengruppe so miteinander Musik machen darf. Das ist etwas Besonderes. Im Sport würde solch eine Frage nicht aufkommen. Mädchen würde man beim Hundertmeterlauf nie mit den Knaben in dieselbe Kategorie einteilen.
Sie sind der 18. Thomaskantor nach Bach. Ist diese Tradition nur schön, oder nervt es auch, dass dieser Riese immer hinter Ihnen steht?
Nein, es ist schön, dieses Amt ausüben zu dürfen. Man spürt nicht nur Bach im Nacken, man spürt schon die ganze Tradition: Schein, Kuhnau, Calvisius – das waren ganz große Leute, ohne die Bach nicht möglich gewesen wäre. Das Amt hatte ja schon vor ihm eine bedeutende Ausstrahlung. Aber natürlich ist Bach der größte, er fordert uns jeden Tag neu heraus. Wir sind vermutlich der einzige Chor in der Welt, der sich wirklich jeden Tag mit Bach beschäftigt. Die Jungs sehen ihn jeden Tag an der Wand im Probensaal – ich muss mich dazu umdrehen, und dann muss man manchmal tief durchatmen, wenn eine Nummer besonders schwer ist, und ihm sagen: Was haben Sie uns da angetan! Aber die Verbindung von Wort und Musik und das emotionale Element ist bei ihm schon grandios.
Ist es Ihre freie Entscheidung, dass Sie jede Woche eine Bach-Kantate aufführen, oder ist das in Ihrem Vertrag festgeschrieben?
Festgeschrieben ist da nur die intensive Beschäftigung mit Johann Sebastian Bach. Bach ist einfach in der DNA des Chores drin, und das spürt man, wenn man mit den Jungs arbeitet, mit ihm wachsen sie auf. In den acht Jahren, die sie bei uns sind, singen sie jeden Tag Bach. Es ist viel Selbstverständnis da, das ich in den Proben, wenn es um die Interpretation geht, dann beharrlich verfeinere und festige.
Ist die Passionszeit ein Höhepunkt im Jahr?
Absolut. Das ist für uns neben der Weihnachtszeit die zweite Hoch-Zeit im Jahr. Jetzt singen wir ja zwei Jahre hintereinander die Johannes-Passion, das hat es lange nicht mehr gegeben. Normalerweise singen wir Matthäus- und Johannes-Passion abwechselnd. Aus gutem Grund, denn wenn Sie zwei Jahre keine Matthäus- oder Johannes-Passion machen, dann singt die Hälfte der Jungs schon nicht mehr im Knabenchor. Aber 2027 hat die Matthäus-Passion Jubiläum, wir werden sie also 2025 aufführen, und deshalb machen wir jetzt zweimal hintereinander die Johannes-Passion, die wir letztes Jahr auch eingespielt haben – die Fassung von 1724 mit der Akademie für Alte Musik Berlin, mit Knabensolisten und 24 Thomanern. Das war schon was Besonderes.
Bei den Aufführungen am Gründonnerstag und Karfreitag haben Sie Profi-Solisten.
Genau. Aber für die Aufnahme wollten wir etwas schaffen, was dieser ominösen 1724er-Fassung nahekommt, von der wir ja vieles nicht wissen. Für mich war klar: Wir nehmen historische Instrumente und Knabensolisten und versuchen – ich will nicht sagen: möglichst nah am Original zu sein, denn wir wissen nicht, wie es war, aber doch uns den Aufführungsbedingungen der Zeit zu nähern.
Fühlt sich das Gewandhausorchester da nicht ausgebootet?
Nein. Wir haben mit dem Gewandhausorchester ja die Messe in h-Moll eingespielt und das Weihnachtsoratorium und die Johannes-Passion für das Fernsehen produziert. Die Zusammenarbeit mit dem Gewandhaus kann ich nicht anders als phänomenal nennen. Ich habe das Gefühl, dass alle Musikerinnen und Musiker, die da mitspielen, mit Bach verbunden sind. Das spürt man einfach, wenn sich ein Orchester über Jahrzehnte mit der Materie auseinandersetzt, und die Offenheit im Orchester ist groß. Wir sind klanglich auch neue Wege gegangen, wie ich finde: spannende Wege.
Aber die Musiker spielen auf modernen Instrumenten.
Ja, aber bogentechnisch und spieltechnisch können wir uns annähern. Wenn man am Abend eine Strauss- oder Wagner-Oper spielt, kann man nicht am Nachmittag vorher Bach auf Darmsaiten spielen. Auch den Bläsern möchte ich nicht zumuten, sich auf das Wagnis zum Beispiel einer Naturtrompete einzulassen. Das sollte man wirklich studiert haben. Das Niveau, das wir hier mit dem Orchester und dem Chor haben, ist beglückend, das möchte ich nicht antasten. Aber bei Aufnahmen haben wir die Freiheit, die Vielfalt zu erreichen, die wir anstreben.
Es gibt ja noch andere Passionen als die beiden von Bach. Können Sie die auch mal aufführen?
Ja, wir haben in der Tempus clausum, also in der Fastenzeit, die Möglichkeit, etwas anderes zu machen, weil von Bach damals in der Passionszeit keine Figuralmusik aufgeführt worden ist. Wir haben vor zwei Jahren Graupner gemacht, wir haben Telemann gemacht, wir machen jetzt am Sonntag Lätare eine Kantate von Georg Böhm, das ist schon toll. Aber man muss sich schon bewusst sein: Jede Woche eine neue Kantate aufzuführen bedeutet, dass man jeden Tag mit den Jungs gefordert ist. Wenn man eine Matthäus-Passion drei Jahre nicht macht, dann ist die weg. Wenn man Matthäus- und Johannes-Passion im Wechsel aufführt, dann ist immer noch was da, auf dem man aufbauen kann. Stellen Sie sich vor, dass wir am Hohen Donnerstag und am Karfreitag die Johannes-Passion aufführen und zwei Tage später BWV 31, die große Osterkantate, „Ja der Himmel lacht, die Erde jubilieret“. Und die ist tüchtig schwer, die müssen wir proben!
Dennoch finden Sie noch Zeit für Ausflüge in die Oper. Sie werden bald an der Oper Leipzig debütieren. Was dirigieren Sie da?
Die letzte Oper von Johann Christian Bach, dem jüngsten Bach-Sohn, der eine große Karriere in Mailand und in London gemacht hat. „Amadis de Gaule“, wir nennen es, „Amadis der Ritter“, das wird eine spezielle Produktion für Familien werden. Die Oper ist meine zweite Leidenschaft. Die Zeit schneide ich mir ab, auch für die Arbeit mit der Oper Schloss Waldegg in der Schweiz, die ich seit fast 20 Jahren leite. Das ist eine tolle Ergänzung – und kommt mir zugute, wenn wir jetzt die „Schöpfung“ von Haydn in Berlin, Dresden und Leipzig aufführen. Gotthold Schwarz wollte das vor vier Jahren machen. Dann kam Corona. Aber die Säle sind gebucht, und deshalb wagen wir uns jetzt auch mal auf ein anderes Terrain vor. Wobei man sagen muss, dass wir die „Schöpfung“ und auch die „Jahreszeiten“ in der Vergangenheit immer wieder mal gesungen haben.
Wie ist es mit zeitgenössischer Musik?
Wir hatten beim Bachfest die große Uraufführung von Jörg Widmann, ein gigantisches Projekt. Diese Kantate zu 300 Jahren Bach in Leipzig war sehr eindrücklich, aber auch am Rande dessen, was man mit einem Knabenchor leisten kann. Wir haben Bernd Franke aufgeführt bei meiner Amtseinführung und machen nächste Woche ein Gloria von Ivo Antognini. Das spielt schon eine wichtige Rolle.
Aber Komponieren gehört nicht zu Ihrer Stellenbeschreibung?
Nee, ich kann besser kochen als komponieren.
Letzte Frage: Ist das Amt so schön, wie Sie es sich erträumt haben?
Auf jeden Fall. Es ist ein großes Privileg! Aber auch eine große Herausforderung. Der Chor erneuert sich jedes Jahr, alle vier Jahre hat man einen komplett neuen Chor vor sich. Die „Schöpfung“ war vor vier Jahren aufführungsreif, und jetzt singt noch ein einziger von damals mit. Alle anderen sind neu. Der einzige, der hier alt wird, ist der Kantor.