
Es ist ein ambitioniertes Projekt für einen jungen Pianisten: Schuberts Gesamtwerk für Klavier solo auf zwölf CDs, kombiniert jeweils mit Werken eines oder mehrerer anderer Komponisten. 2023 ist die erste „Schubert+“-CD von Can Çakmur beim Label BIS erschienen, die zwölfte Folge soll die Serie im Schubert-Jahr 2028 abschließen. Bereits zwei CDs erhielten den renommierten ICMA-Preis als „Solo-Einspielung des Jahres“. Çakmur stammt aus Ankara, hat in Weimar studiert und wohnt dort bis heute, obwohl er in London als Professor unterrichtet. Beim Interview entpuppt sich der 27-Jährige, der sehr gut Deutsch spricht, als ebenso unkompliziert wie reflektiert.
Herr Çakmur, wie kommt man als junger Pianist auf die Idee, den gesamten Schubert aufzunehmen? Und wie schafft man es, eine Plattenfirma von dem Projekt zu überzeugen?
Die Antwort auf die zweite Frage beantwortet auch die erste. Ich habe 2018 den Hamamatsu-Wettbewerb in Japan gewonnen und durfte dadurch eine Debüt-CD beim schwedischen Label BIS machen. Das war ein gemischtes Programm: Haydn, Schubert, Bartók und so weiter. Die Sessions liefen gut, und der Labelchef Robert von Bahr sagte: Lass uns nächstes Jahr eine zweite Platte machen! Das war dann Schuberts „Schwanengesang“ in Liszt-Bearbeitungen. Die CD kam gut in der Fachpresse an und hat sogar einige Preise gewonnen. Und weil 2028 das Schubert-Jahr ist und BIS noch keine Schubert-Serie im Katalog hatte, haben sie mir angeboten: Mach doch mal einen Entwurf für eine Gesamteinspielung. Aber was bedeutet das bei Schubert? Schließlich haben wir uns entschlossen, nur die als vollständig geltenden Werke aufzunehmen, also nicht die vielen Einzelsätze, die es gibt. Und dann habe ich noch Stücke anderer Komponisten miteinbezogen, damit die einzelnen CDs mehr an Bedeutung gewinnen: Es gibt viele Jugendwerke von Schubert, die zwar sehr interessant sind, aber für sich nicht so attraktiv wären. Das Studio stand bereit, der Flügel wurde von Kawai gestiftet. Also macht das Ganze auch jenseits der künstlerischen Aspekte, denke ich, für BIS Sinn.
Sie werden also jetzt zum Schubert-Fachmann, ohne es zu wollen.
Ich hasse das Wort, ehrlich gesagt. Ich denke, als Musiker sollte man vieles einigermaßen gut können. Jedoch musste ich mich viel mit dem Liedgesang des 19. Jahrhunderts beschäftigen, um die Tradition der Schubert’schen Aufführungspraxis besser zu verstehen. Darin bin ich tatsächlich ein Fachmann geworden, ohne mich so bezeichnen zu wollen.
Die Schubert-Lieder werden dann das nächste Projekt?
Puh, das wäre ein Lebensprojekt. Nein, ich mache auf jeden Fall erst mal eine Pause von Schubert, ich fühle mich in kreativer Hinsicht schon erschöpft. Es werden zwölf CDs, die meisten haben wir schon im Kasten. Wir bringen sie nach und nach heraus, die letzte wird 2028 erscheinen.
Wie kombinieren Sie Schubert mit anderen Komponisten?
Einige Paarungen sind intuitiv entstanden, andere aus musikwissenschaftlichen Überlegungen heraus. Schuberts und Rachmaninows „Moments musicaux“ – das ist eine schöne, natürliche und vor allem vielfältige Kombination, ebenso die „Valses nobles“ von Schubert und Ravel. Viel spannender finde ich aber die thematischen Bezüge: Zum Beispiel hat Ernst Krenek Schuberts Sonate D 840 vervollständigt und danach einige Stücke nach Schuberts Vorbild komponiert. Oder auf der CD, die im Februar erscheinen wird: Schumanns „Waldszenen“ und Schuberts Sonate D 850 – beide Werke sind vom Wald angeregt und reagieren, meiner Meinung nach, auf die politischen Turbulenzen der Zeit: Schubert auf den Wiener Kongress 1815, Schumann auf die Revolution 1848.
Und was verbindet Schubert und Skrjabin?
Die Form des Impromptus. Voříšek hat das Format „erfunden“, Schubert hat es übernommen, dann folgten viele andere – und wenn man die Platte durchhört, ist ein schöner Spannungsbogen zu erkennen. Aber was ich faszinierend finde: Alle Stücke haben Triolen-Arabesken, ausnahmslos. Ist das ein Zufall? Was „bedeutet“ ein Impromptu oder eine Romanze oder ein Intermezzo? Warum haben Komponisten eine bestimmte Gattung gewählt? Da steckt mehr dahinter als nur die formale Anlage, da geht es ja um den Ausdruck von Affekten.
Wären Sie auch ohne diesen Wettbewerbsgewinn auf die Idee gekommen, CDs zu machen?
Natürlich träumt jeder auf der Musikhochschule davon, später mal in den großen Sälen zu spielen. Aber ich habe früh gemerkt, dass mir das allein nicht die Erfüllung bringen würde. Das Aufnehmen, das Unterrichten und das Schreiben sind mir genauso wichtig wie das Konzertieren. Und Schubert habe ich schon immer geliebt. Man könnte sagen, diese Werke aufzunehmen, war ein Kindheitstraum.
Warum ist es denn schöner, im Studio aufzunehmen, als im Konzertsaal auf dem Podium zu sitzen?
Die Wochen, bevor man ins Studio geht, sind nicht schön, weil ich da Entscheidungen treffen muss, zumindest grob, die ich eigentlich nicht mehr revidieren kann. Und mit diesen Entscheidungen muss ich auch in zwei Jahren noch leben können, wenn ich die Platte endlich höre. Was das Studio so besonders macht, ist, dass man versucht, ein Stück so zu gestalten, wie man es sich immer schon vorgestellt hat. Es spielt keine Rolle, ob es beim ersten oder beim 150. Take gelingt. Man sucht intensiv, und wenn es gut läuft, wird es sehr berührend, da die Musik dann eine Form annimmt, die bisher nur in meiner Vorstellung existiert hat. Und wenn man es richtig gut gemacht hat, dann hat man am Ende eine einzigartige Fassung geschaffen, die es tatsächlich noch nie zu hören gab. Das gibt einem ein seltenes Glücksgefühl. Im Konzert kann dagegen so vieles dazwischenkommen, da erlebe ich nur den Moment und habe nicht diesen Weitblick, der im Studio möglich ist.
Aber im Studio spielen Sie in einen leeren Raum hinein.
Ja, aber unter idealen Bedingungen. Ich spiele auf den besten Instrumenten und werde von einem Tonmeister aufgenommen, Ingo, dem ich komplett vertraue. Das ist so eine private Freude zwischen mir, Ingo und dem Klaviertechniker oder der -technikerin. Und wenn jemand später die CD anhört und sogar genießt – umso besser. Wenn ich meine alten CDs höre, bin ich natürlich ziemlich kritisch. Aber ich erinnere mich auch, wie wir damals von dieser Musik so tief berührt waren. Das bleibt.
Gehört auch Mut dazu, CDs aufzunehmen? Zu den ersten Hörern gehören ja oft Kritiker, die das sofort vergleichen mit Brendel und Uchida und den ganz alten Heroen.
Als Mut würde ich das nicht bezeichnen. Wenn Menschen in Kriegsgebiete gehen, um anderen Menschen zu helfen, das ist Mut. Ich glaube, es war Mitsuko Uchida, die gesagt hat, man braucht im Konzert enormen Mut, um sich zu öffnen. Das stimmt natürlich. Aber man wird am Ende nicht sterben. Wenn meine Musik einem Kritiker gefällt, bin ich glücklich. Wenn er oder sie etwas zu kritisieren hat, frage ich: Kann ich davon etwas mitnehmen und lernen oder hat er/sie einfach eine andere Vorstellung vom Stück? Wenn es so ist, muss ich das akzeptieren.
Sind CDs noch wichtig für die Karriere? Wie macht man heute überhaupt Karriere?
Ich glaube, CDs bleiben irgendwie wichtig. Ohne Aufnahmen ist es schwierig, im klassischen Markt akzeptiert zu werden. Aber die große Frage ist: Was machen wir, wenn eine CD erscheint? Da kommt das gefürchtete Wort PR ins Spiel. Ich denke mehr und mehr, dass wir da unseren Ansatz ändern müssen. Nehmen wir Fazıl Say: Er hat viel früher als andere gemerkt, dass es darum geht, eine enge Verbindung zum Publikum aufzubauen. Das Publikum muss es als eine unverzichtbare Bereicherung für sein Leben betrachten, ins Konzert zu gehen. Mit anderen Worten: Wir sollten als Künstler eine aktive Rolle im Leben der Menschen spielen. Wir müssen mehr zum intellektuellen Diskurs der Gesellschaft beitragen. Dass die Musik allein für sich steht und nur aus sich heraus ihre Bedeutung enthält, gilt vielleicht noch in der Wiener Staatsoper oder in den großen Konzertsälen in Tokio. Diesen gesellschaftlichen Zugang haben andere Musikgenres besser gefunden. Wir haben in dieser Hinsicht noch viel zu lernen.
Liegt es an der Vermittlung, oder liegt es an der Musik selbst?
An der Vermittlung. Die Musik selbst kann immer aktuell sein. Jordi Savall hat gerade dieses fantastische Programm zur Migration entworfen. Die Themen, die die klassische Musik behandelt, sind aktuell. Die Art, wie wir sie darbieten, oft nicht so. Um ein Beispiel zu nennen: Ein zeitloses Gefühl der Entfremdung findet man schon in der „Winterreise“. Aber die Frage ist, ob wir die „Winterreise“ so präsentieren müssen, wie wir es üblicherweise tun – nämlich wie im Museum hinter einer Glasscheibe. Die technische Umsetzung des Notentextes, die Aufführungspraxis steht sehr im Vordergrund – als ob die Interpretation Eiskunstlauf wäre. Alles ist so streng stilisiert, dass kaum Spielraum bleibt, das Stück im Moment der Aufführung neu zu erschaffen. Man sollte Schuberts „Winterreise“ singen, weil sie für das heutige Leben eine Aussage hat, und nicht, weil man aufführungspraktischen Bedingungen nachkommen muss.
Das heißt also, die historische Aufführungspraxis sollte keine Rolle spielen?
Die sogenannte historische Aufführungspraxis stellt ja nicht die Aufforderung dar, genauso zu spielen, wie damals gespielt wurde. Richard Taruskin hat schon vor Jahrzehnten sehr konsequent argumentiert, dass ein wahrer Historismus unmöglich ist. Nein, sie ist entstanden als Protestbewegung. Frans Brüggen hat gesagt: Alles, was im Concertgebouw gespielt wird, ist eine Lüge. Und das hieß: Was ihr macht, ist langweilig. Machen wir es anders! Nämlich wie? Wir entdecken die alten Spielweisen und die alten Instrumente. Es ging darum, eine gültige, musikwissenschaftlich fundierte Alternative zu schaffen, die weitere Möglichkeiten für die Musikvermittlung bietet. Es gibt bei Shakespeare Wortspiele und Reime, die nur mit den Ausspracheregeln seiner Zeit Sinn ergeben. Was die historische Aufführungspraxis anbietet, ist ein musikalisches Äquivalent dazu. Man liest immer noch den „Werther“ und findet heute natürlich einen anderen Zugang dazu. Und man kann debattieren, ob das bereits das Kunstwerk ändert oder nicht. Das ist eine gute Debatte, finde ich. Und dass man darüber diskutiert, wie Shakespeare zu lesen sei und wie man ihn inszeniert, ist doch fantastisch.
Im Sprechtheater ist es üblich, dass man inszeniert und modernisiert. In der Musik kleben wir an den „heiligen“ Noten von Schubert.
Ja, aber mittlerweile wissen wir mit relativer musikwissenschaftlicher Sicherheit, dass Michael Vogel ziemlich frei mit den Liedern umgegangen ist und dass Schubert damit einverstanden war. Ich finde es absolut in Ordnung, diese Werke zu modifizieren. Ich persönlich mache es in eher geringen Maßen, aus persönlicher, künstlerischer Überzeugung und nicht aus dogmatischen Gründen.
Wo liegen die Grenzen? Im persönlichen Geschmack?
Ich finde: ja. Was der eine genial findet, wird jemand anderes schlecht finden. Das ist auch völlig in Ordnung. Und dann könnte man debattieren: Was gilt noch als Kunst? Ist Einaudi Kunst? Wie ist es mit Max Richters Vivaldi? Ist „Strawberry Fields Forever“ von den Beatles Unterhaltungsmusik, obwohl es stilistisch so wegweisend war? Was ist mit Steve Reich, der vor allem im Raum der populären Musik, nicht in der Klassik nachgewirkt hat? Und noch wichtiger: Ist es noch Kunst, wenn man versucht, einen Notentext so treu wie möglich und fast mit religiöser Hingabe nachzuspielen, oder ist es nur noch Fanatismus?
Dass man die „Winterreise“ mit Akkordeon oder Leierkasten spielt, ist akzeptiert. Wenn man es auf dem Klavier mit ungewöhnlichen Tempi spielt, gibt es einen Aufschrei.
Stimmt. Worauf reagiert man emotional? Bevor Monteverdis „Orfeo“ im Wiener Musikverein auf „Originalinstrumenten“ gespielt wurde, hat Hindemith gesagt: Sie werden es wahrscheinlich seltsam finden und vielleicht nicht mögen. Aber ich versichere Ihnen, das ist die wahre Fassung. In klaren Worten: Das ist die Wahrheit. Wenn ihr es nicht mögt, müsst ihr lernen, es zu mögen. Das gilt bis heute. In der musikalischen Ausbildung lernen wir: Die klassische Musik darf man in ihrer Reinform nicht anfassen. Wir sind unausgesprochen einig, was diese Reinform sein soll. Wenn einen das emotional nicht berührt, dann muss man eben lernen, einen Zugang zu finden. Ändere dich selbst, aber nicht die Musik! Richtiger wäre es, auf die eigenen Gefühle zu hören und seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Sich mit der Tradition vertraut zu machen und etwas als richtig und falsch einzuordnen, sind zwei verschiedene Sachen. Das zielt mitten hinein in die Frage, wie man eine Karriere gestaltet. Man sollte Methoden finden, dass man mit seinen eigenen Überzeugungen ein Publikum erreicht, dass man freier, flexibler agiert …
Apropos: Ist Hindemith in der Türkei noch wichtig?
Absolut, man weiß noch immer, was er dort in den 1930er Jahren geleistet hat. Sein Erbe ist groß und, zugegeben, umstritten.
Sind Sie mit klassischer Musik aufgewachsen?
Ja, ich war mit meinen Eltern regelmäßig im Sinfoniekonzert. Damals lief die Wirtschaft noch gut, ich konnte noch einige große Namen in Ankara hören. Erst später habe ich türkische klassische Musik entdeckt und noch viel später das, was grob und abwertend als Unterhaltungsmusik bezeichnet wird.
Gibt es noch viele Menschen, die mit Klassik aufwachsen, oder ändert sich da etwas?
Sie wären überrascht, wie gut die Nachwuchskünstler in der Türkei sind. Die stammen meist aus einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht. Vor einigen Jahren, als die wirtschaftliche Lage nicht so katastrophal war, waren die Karten für Sinfoniekonzerte noch sehr günstig. Ins Konzert zu gehen, war auch eine Art politische Zeichensetzung für eine säkulare, moderne Türkei. Jetzt hat diese Rolle das Theater übernommen. Das Konzertpublikum wird weniger, das Theaterpublikum wächst.
Wie sind Sie nach Deutschland gekommen?
Ich war Stipendiat der Stiftung der Pekinel-Zwillinge, und die haben uns den Weg gewiesen, in Deutschland zu studieren. Ich war vorher eher nach Frankreich orientiert und hatte in Belgien schon privat studiert. Als ich dann Grigory Gruzman kennengelernt habe, war klar: Bei ihm in Weimar muss ich studieren!
Aber Sie konnten schon Deutsch, oder?
Ich habe die deutsche Sprache über die Schubert-Lieder erkundet. Ich konnte es nicht sprechen, aber ich hatte ein Fundament, auf dem ich dann aufgebaut habe, als es klar wurde, ich würde nach Weimar umziehen.
Und wie haben Sie die Professur in London bekommen?
Ich war während des Masterstudiums pädagogischer Assistent bei Gruzman, und danach habe ich nach Stellen gesucht. Meine Agentur war damals in London, und ich dachte, es wäre gut, eine enge Beziehung zu der Stadt aufzubauen. Die Bedingungen haben gut gepasst, und glücklicherweise habe ich in den Lehrproben überzeugt.
BIS wurde ja vor zwei Jahren von Apple Music gekauft. Wollen die weiterhin CDs machen?
Das haben sie erst mal versprochen. Und wir haben auch schon weitere Projekte nach 2028 geplant. Natürlich wird es einen leichten Richtungswechsel geben. Ich glaube, passend zum Zeitgeist werden die Aufnahmekünstler selbst etwas mehr im Vordergrund stehen als das Repertoire. Ich merke schon, dass das für die Sichtbarkeit auf den Streaming-Plattformen immer mehr gemacht wird. Zu erwarten ist auch, dass die visuellen Aspekte der Produktionen etwas markanter werden. Wir hatten für die CD-Cover immer passende Gemälde ausgesucht. Jetzt sind es nur Künstlerfotos von mir. Ich fand die Gemälde interessanter, aber so ist der Zeitgeist … Die Wahrheit ist, dass wir Künstler die Menschen erreichen müssen. Dafür gibt es aktuell vorgesehen die sozialen Medien, Streaming, genreübergreifende Projekte. Wir können nicht so tun, weder als Künstler noch als Label, als ob es die nicht gäbe. Die Frage, die wir versuchen müssen zu beantworten, ist, wie wir die künstlerische Integrität bewahren und nicht noch mehr Brei und leeren Content produzieren.